Fernando Vallespín, Politikwissenschaftler, im Gespräch über Spaniens antisemitische Linke

»Der Konflikt wird instrumentalisiert«

In Spanien forderte die Sozialministerin Ione Belarra den Abbruch diplomatischer Beziehungen mit Israel und Wirtschaftssanktionen gegen das Land. Der Politikwissenschaftler Fernando Vallespín im Gespräch über die antiisraelischen Positionen in der Linken Spaniens.
Interview Von

Kritik an Israel wurde bis zum Hamas-Pogrom am 7. Oktober parteiübergreifend von links bis rechts geäußert. Das linke Wahlbündnis Sumar forderte nun die Anerkennung eines palästinensischen Staats im Koalitionsabkommen mit der sozialdemokratischen Regierungspartei PSOE von Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez, zog das aber zurück.
Innerhalb der spanischen Linken wird der Angriff der Hamas als Reaktion auf eine »historische Repression« des palästinensischen Volks erachtet. Das äußerte sich auch in den Worten der Sozialministerin und Generalsekretärin der linkspopulistischen Partei Podemos, Ione Belarra.

Belarra forderte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen Spaniens – und auch anderer EU-Staaten – mit Israel, Wirtschaftssanktionen, um den »Genozid zu stoppen«, und dass Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu als »Kriegsverbrecher« vor den Internationalen Strafgerichtshof kommt.
Als hätte es die terroristischen Attacken der Hamas gar nicht gegeben, sie hat sie nicht einmal erwähnt. Die israelische Botschafterin in Spanien protestierte und forderte Belarras Rücktritt.

Unterscheiden sich die Positionen zu Israel und Palästina in den politischen Lagern?
Die Unterstützung Israels geht seit den achtziger Jahren in Spanien primär von der politischen Rechten aus. Die Linke unterstützt die Palästinenser. Die typischen Palästinensertücher waren schon in den achtziger Jahren Mode und immer auf linken Demonstrationen präsent. Seit der Koalition Netanyahus mit den Ultraorthodoxen nahm die Kritik an Israel zu. Aber im Gegensatz zu den arabischen Staaten ist Israel eine Demokratie.
Jeder Konflikt auf dieser Welt wird prompt für innerspanische politische Ziele instrumentalisiert. Die öffentliche Palästina-Solidarität der linken Parteien dient auch dem eigenen politischen Überlebenskampf. Podemos ist seit der Integration in Sumar als unabhängige Partei unbedeutend. Es geht um Aufmerksamkeit und darum, zu betonen, dass man die »wahre Linke« sei. Podemos will über die Palästina-Solidarität ihre Basis zurückgewinnen. Damit erreicht man aber den linken Flügel des sozialdemokratischen PSOE nicht.
Ich weiß nicht, ob sich der Radikalismus von Belarras Aussagen auf Positionen anderer Linker ausweitet. Mir ist aufgefallen, dass sie niemals den russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine klar verurteilte. Das steht im Gegensatz zu ihrer Kritik an Israel. Podemos war gegen den Ukraine-Krieg, stellte sich anfangs gegen Waffenlieferungen und forderte Frieden, mehr nicht. Wortmeldungen der Arbeitsministerin und Gründerin von Sumar, Yolanda Díaz, entsprachen aber auch den üblichen linken Positionen.

Díaz sprach nach den Terrorangriffen der Hamas von »israelischer Apartheid«. Der PSOE tritt hingegen für eine »humanitäre Waffenrufe« ein, die allerdings auch der Hamas zugutekäme.
Der PSOE und dessen linker Flügel möchten einen Dialog und eine Zweistaatenlösung. Sánchez benennt deutlich, dass die Attacken der Hamas Terrorismus sind. Praktisch alle, auch in der Linken, verurteilen die Terroranschläge. Was innerhalb der Linken aber oft ausgeblendet wird, ist, dass die Hamas als Terrororganisation die gesamte Bevölkerung Gazas in Geiselhaft genommen hat. Die Hamas-Regierung hat in keiner Weise dazu beigetragen, den Gaza-Streifen zu entwickeln oder das Leben der Bewohner:innen zu verbessern. Internationale humanitäre Hilfe wurde größtenteils in die Kriegsvorbereitung und den Tunnelbau gesteckt. Sie haben auch keine politischen Ziele für Gaza. Die Grausamkeit der Hamas richtet sich gegen Israel, aber auch gegen das eigene palästinensische Volk.

»Es gab Konvertiten, die als Christen den jüdischen Riten weiter folgten. Die spanische Tradition, Rohschinkenhaxen zu Hause oder in Bars aufzuhängen, stammt aus diesem Kontext: Man wollte zeigen, dass man Schwein aß.«

Auch linke Medien wie eldiario.es, CTXT, Público oder 5W beziehen einseitig Position für Palästina und geben antisemitischen Kommentatoren Raum.
Insbesondere eldiario.es ist seit sei­ner Gründung sehr orthodox bei linken Themen. El País ist aber vielseitig und stellt auch dar, dass es sich um ­einen hochkomplexen Konflikt handelt. Die Mehrheit der spanischen ­Bevölkerung erachtet die Hamas-Attacken als terroristische Taten und spricht Israel das Recht auf Selbstverteidigung zu.

Spanien hat Israel erst 1986 anerkannt. Warum hat das so lange gedauert?
Der faschistische Diktator Francisco Franco hatte Israel nie anerkannt. Spanien pflegt erst seit Anfang der achtziger Jahre diplomatische Beziehungen zu Israel. Die jüdische Bevölkerung in Spanien ist mit 40.000 bis 50.000 Personen eine sehr kleine Minderheit. Es war auch lange überfällig, dass Spanien die Vertreibung der Jüdinnen und Juden vor 500 Jahren anerkannte und eine gewisse Wiedergutmachung versuchte.

Das Alhambra-Edikt ordnete 1492 die Vertreibung von Juden, die nicht zum Christentum übertraten sind, aus allen Territorien der katholischen Könige von Kastilien und Aragón an. Erst 1992 wurde das Edikt durch König Juan Carlos I. unwiderruflich außer Kraft gesetzt.
Unter der Regierung des ehemaligen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy vom stramm konservativen Partido­ ­Popular (PP) bekamen die Nachkommen der vertriebenen sephardischen Juden 2015 das Recht auf die spanische Staatsbürgerschaft. Viele Jüdinnen und Juden, etwa aus Argentinien oder Israel, nahmen seither das Angebot an. Dadurch erhalten sie EU-Bürgerrechte, aber es ist auch eine wichtige symbolische Geste.

Die sephardische Diaspora hat eine lange und tragische Geschichte …
Viele Familien der Vertriebenen bewahren bis heute den Schlüssel des Hauses, in dem ihre Vorfahren vor einem halben Jahrtausend in Spanien lebten. Es gab Konvertiten, die als Christen den jüdischen Riten weiter folgten. Die spanische Tradition, Rohschinkenhaxen zu Hause oder in Bars aufzuhängen, stammt aus diesem Kontext: Man wollte zeigen, dass man Schwein aß.

Hatten Sie als Leiter des staatlichen Statistikinstituts schon den Antisemitismus in Spanien erfasst, der auch nach der Diktatur in franquistischen und rechtsextremen Gruppen weiterlebte? Studien belegen, dass über ein Drittel der Bevölkerung antisemitische Vorurteile habe.
Solche Erhebungen kamen erst nach meiner Zeit hinzu. Es gab getarnte Fragen zu Vorurteilen gegen Minderheiten, weil die meisten sich ja nicht als rassistisch, antisemitisch, antimuslimisch oder antiziganistisch bezeichnen. Nach dem Schema: »Wen möchte man als Nachbar:in haben?« Schon in meiner Zeit war Antiziganismus ein großes Problem, die wenigsten wollten Roma als Nachbarn. Antisemitismus war lange kein offenkundiges Problem, hat jedoch in den vergangenen Jahren stets zugenommen.

»Podemos-Parteigründer Pablo Iglesias bekam Gelder aus dem Iran für sein Medienprojekt La Tuerka.«

Viele Spanier:innen wissen dabei gar nicht, dass sie jüdische Wurzeln haben. Interessant wäre es, Umfragen zu starten, was Bewohner:innen lieber in ihrem Bezirk hätten, eine Moschee oder eine Synagoge. Ich nehme einmal an, es würde sich eine Mehrheit für die Synagoge abzeichnen. Antiislamische Einstellungen sind in Spanien deutlicher erkennbar, es leben auch über eine Million Marokkaner:innen hier.

Linksradikale und separatistische Terrororganisationen in Spanien wie die baskische Eta waren mit der arabischen Welt gut vernetzt, absolvierten militärische Ausbildungen in palästinensischen Trainingscamps.
Das wurde in Spanien politisch und medial eher verschwiegen. Es war aber bekannt, dass die Eta in Algerien Trainingslager besuchte. Die junge Generation kann sich kaum an die Eta erinnern. Die Verbindungen sind mittlerweile weder im Baskenland noch im restlichen Spanien von Bedeutung. Aber die baskisch-separatistische Partei EH Bildu solidarisiert sich mit Palästina, genauso wie die linke separatistische Esquerra Republicana de Catalunya in Katalonien, die dortigen rechtsgerichteten separatistischen Junts per Catalunya hingegen mit Israel. Der Konflikt im Baskenland und der im Nahen Osten haben überhaupt nichts miteinander zu tun, trotzdem vergleichen ihn einige und reden von »Freiheitskampf« und »Freiheit der Völker«.

Zum Kriegsbeginn sprachen Politik­er:innen des erzkonservativen PP häufig von »Podemos-Kontakten zur Hamas«, für die es aber keine Beweise gibt. Seitens der rechtsextremen Partei Vox verhält man sich zum israelisch-palästinensischen Konflikt erstaunlich still.
Der Podemos-Parteigründer Pablo Iglesias bekam Gelder aus dem Iran für sein Medienprojekt La Tuerka. Die Polarisierung zeigt sich in ganz Europa. In Frankreich ist Marine Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement National als Antimuslimin für Israel, Jean-Luc Mélenchon von der linkspopulistischen Partei La France insoumise hat die Hamas nicht verurteilt und verteidigt Palästina.

Es kam zu Vandalismus gegen eine Synagoge in Barcelona, ebenso in Spaniens nordafrikanischer Enklave Melilla. Dort wurden auch Wohnungen von Juden angegriffen. In Granada mehren sich Schmierereien für die Hizbollah und die Hamas in den Straßen. Und es gibt antiisraelische Demonstrationen. Wer trägt sie?
Die Mehrheit der an Demonstrationen Teilnehmenden sind muslimische-arabische Einwanderer:innen aus dem Maghreb, auch in zweiter und dritter Generation, und Flüchtlinge aus Syrien. Es gibt aber keine nachweisliche Unterstützung für die Hamas, die Demonstrationen finden unter dem Motto »Waffenstillstand und Frieden« statt. Und es gilt Demonstrationsfreiheit.

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Fernando Vallespín Oña

Fernando Vallespín Oña ist Professor für Politikwissenschaft und Verwaltung an der Universidad Autónoma de Madrid. Gastprofessuren führten Vallespín an die Universitäten Frankfurt, Heidelberg, Veracruz, Malaysia und Harvard. Als Experte für politische Theorie und politisches Denken hat er mehr als 100 wissenschaftliche Artikel und Buchkapitel in spanischen und ausländischen Fachzeitschriften veröffentlicht. Er schreibt regelmäßig für die spanische Tageszeitung »El País« sowie für politische Radiosendungen. Er ist der Herausgeber der sechsbändigen »Historia de la teoría política« (Geschichte der politischen Theorie). Von 2004 bis 2008 war er Präsident des staatlichen Statistikinstituts Centro de Investigaciones Sociológicas (CIS).