Mit Beobachtern der Türkischen Arbeiterpartei in Mersin bei der Stichwahl

Blick zurück im Zorn

Die Türkische Arbeiterpartei hatte bei der Präsidentschaftswahl das Wahlbündnis von Kemal Kılıçdaroğlu unterstützt. Im Süden der Türkei beobachteten einige ihrer Mitglieder am Tag der Stichwahl den Ablauf der Wahlen – und überlegen nun, wohin sie am besten auswandern sollen.

Mersin. Es ist kurz nach neun Uhr, als Demet* die Tür der Parteizentrale der sozialistischen Türkischen Arbeiterpartei (Türkiye İşçi Partisi, TİP) in der südtürkischen Mittelmeerstadt Mersin öffnet. Gemeinsam mit Mehmet*, Meryem* und Derya* koordiniert sie heute die Wahlbeobachtung der Partei: Es ist der 28. Mai. der Tag der Stichwahl um das Präsidentenamt zwischen dem seit 2014 amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan von der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP) und Kemal Kılıç­daro­ğlu, dem Vorsitzenden der kemalistisch-sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei (CHP) und Kandidaten des oppositionellen »Bündnisses der Nation« aus sechs Parteien. Zur morgendlichen Stunde ist es noch ruhig, aber der Tee köchelt bereits im Samowar und die ersten Zigaretten glimmen.

Für die Opposition steht viel auf dem Spiel. Trotz des enttäuschenden ersten Wahlgangs herrscht immer noch Hoffnung, dass ein politischer Wandel in der Türkei möglich ist. Um zehn Uhr kommt der erste Anruf: Ein Wahlbeobachter ist nicht an seiner ­zugewiesenen Stelle erschienen. Kurze Aufregung, Beratschlagen und schließlich Schulterzucken – man könne die Leute ja nicht zu ihrem Ehrenamt zwingen. Zudem sind im betreffenden Lokal bereits Beobachter anderer Oppositionsparteien.

Die TİP unterstützt Kılıçdaroğlus Bündnis. Dieses ist eine bunte Mischung aus Parteien von rechts bis links. »Es ist wirklich eine merkwürdige Wahl«, sagt Mehmet, »wir sind als Arbeiterpartei in einem Bündnis mit der islamistischen Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei) und die Zusammenarbeit funktioniert irgendwie. Alle haben unterschiedliche Interessen, aber über allem steht, dass die jetzige Regierung weg muss.« Und doch herrscht bei so einem breiten Bündnis naturgemäß Misstrauen untereinander. In jedem Wahllokal soll mindestens eine Anwältin oder ein Anwalt des Bündnisses präsent sein, wirklich vertraut wird aber nur den eigenen Leuten.

Auswandern als letzte Option
Im Büro der TİP drehen sich die Unterhaltungen mittlerweile darum, was man macht, wenn Erdoğan weiter im Amt bleiben sollte. »Ich wandere nach Schottland aus, da kriegt man schnell einen Aufenthaltstitel. Danach geht’s weiter nach Portugal«, sagt Meryem. Mehmet will lieber nach Finnland, »ist ruhiger«; Demet möchte irgendwo hin, wo es warm ist. Empört wirft Derya ein: »Und was ist mit mir, lasst ihr mich hier einfach allein zurück?« – »Mein Mädchen, die Revolution geht überall weiter, egal ob hier oder in Portugal«, entgegnet ihr lachend Meryem.

Gegen zwölf Uhr ist es Zeit für die erste Tour durch Wahllokale in Stadtteilen, in denen die beiden Regierungsparteien, die AKP und die rechtsextreme Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), erfahrungsgemäß stark sind. Die Straßen sind wie leergefegt, es nieselt. Mehmet scherzt: »Die halbe Stadt besteht aus Wahlhelfenden oder Wahlbeobachtenden.« Kurze Zeit später wird deutlich, was er meint: In der Schule im Stadtteil Akdeniz steht in fast jedem Klassenraum eine Urne, es herrscht reger Betrieb, viele Menschen suchen die Flure nach der ihnen zugewiesenen Zimmernummer für die Wahl ab. Nach ein paar flüchtigen Blicken in die Klassenräume gibt Mehmet das Zeichen zur Weiterfahrt: »Alles ruhig.« Es folgen weitere Stationen in Schulen ohne besondere Vorkommnisse, dann geht es zurück.

In der Zentrale ist derweil alles beim Alten. An den Wänden der spärlich möblierten Büroräume durchbrechen nur die Bilder von Berühmtheiten der Arbeiterbewegung die Tristesse. Ein ­älteres Parteimitglied setzt sich zur Runde der Rauchenden. »Wo warst du denn den ganzen Tag, Abi?« fragt Meryem schnippisch. »Ich komme gerade vom Wählen.« »Und für wen hast du gestimmt?« schießt sie hinterher. Verdutzt guckt er in die Runde, dann fangen alle an zu lachen. Zwischen Repressionen, Verhaftungen und der eigenen Zersplitterung in zahllose Kleinstparteien ist es ist diese Art von Galgenhumor, mit dem die linke Bewegung ihre miserable Lage zu ertragen weiß.

Warten und rauchen
Der Nachmittag verläuft ruhig. Die ­Ungewissheit und das Warten seien das Schlimmste, sagt Derya, die erst am Abend ihre Beobachtungsschicht hat. Mehmet fährt mit ein paar Ge­noss:in­nen in den Stadtteil Toroslar, um die Auszählung zu überwachen, da es beim ersten Wahlgang zu landesweiten Unregelmäßigkeiten gekommen war. Eine Viertelstunde vor Wahlschluss ist die Stimmung in der Schule deutlich angespannter als noch am Mittag. Neben der Eingangstreppe zur Schule hat sich ein veritabler Haufen Kippenstummel angesammelt, der vom langen Wahltag zeugt.

In dem Klassenraum, den Mehmet für die Beobachtung ausgewählt hat, ist derweil alles für die Auszählung bereit. Sechs adrett gekleidete Wahlhelfende sitzen in dem babyblau gestrichenen Klassenraum an einem Tisch, der ihnen nur bis an die Knie ragt. Gegenüber haben sich fünf Wahlbeobachtende mit gezückten Stiften positioniert. Kurz nach 17 Uhr geht die Auszählung los. Der Wahlvorsteher schüttet die Urne mit den senfgelben Kuverts aus. Zunächst lässt er die Wahlzettel darin nach den jeweils gewählten Kandidaten sortieren und setzt sich dabei mit dem Rücken zu den Beobachtenden an den Tisch. Sofort kommt Protest: »Der Zählvorgang muss für uns einsehbar geschehen.« – »Wir zählen nicht, wir sortieren«, entgegnet er und weist den Einwurf der Beobachtenden wirsch ab. Hier geht es zunächst nach seinen ­Regeln weiter. Im Klassenzimmer ist es schwül, es hat den ganzen Tag Schauer gegeben. Erneut kommt es wegen Kleinigkeiten zu Wortgefechten zwischen dem Wahlvorsteher und Beobachtenden, die schnell laut werden.

Wahllokal in Mersin, 28. Mai

Tag der Ungewissheit. Wahllokal in Mersin, 28. Mai

Bild:
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Nach der ersten Sortierung geht der Zählvorgang los. Zunächst werden die sieben aussortierten ungültigen Stimmen gezählt. Dann lässt der Wahlvorsteher, weiter mit dem Rücken zur Beobachterschaft, für jede Stimme einzeln laut »Kılıçdaroğlu« oder »Erdoğan« vorlesen. Auch aus den anderen Klassenzimmern im Flur erschallt mittlerweile eine Kakophonie, in der sich die zwei Namen überlagern. An dieser Urne dauert der Zählvorgang lange, ständig kommen und gehen weitere nervös dreinblickende Leute in das Klassenzimmer. Männer in zu großen Anzügen schauen den jungen Wahlbeobachtenden über die Schulter, während diese die Stimmenzählung dokumentieren.

Am Ende kommt Erdoğan auf 160 Stimmen, sein Herausforderer auf 151. Und das in einer Schule, in der eigentlich die Opposition in der Mehrheit sein sollte. Mehmet schaut entgeistert, während der Wahlvorsteher in den nächsten Konflikt gerät – dieses Mal mit seinen Wahlhelfenden. Er, der rund 50jährige Mann, sitzt einer bunt gemischten Gruppe am Tisch gegenüber, darunter eine Frau mit leuchtend violettem Kopftuch, eine mit Tattoo auf dem Arm, zwei Männer mit sonnengegerbten Gesichtern. Egal, was sie vorbringen, er weiß es besser. Selbst als der Vorsteher das türkische Wort für »60« falsch in die Akten schreibt, streitet er seinen Rechtschreibfehler zunächst vehement ab und korrigiert sich erst, nachdem er das Wort selbst im ­Internet gesucht hat.

Die Nervosität nimmt zu
Als seine Genossen von der TİP in den Raum stoßen, wirkt Mehmet erleichtert: Fast überall sonst im Wahllokal scheint die Opposition mit deutlichem Vorsprung gewonnen zu haben. Schnell werden die Ergebnisse für die eigenen Hochrechnungen der TİP abfotografiert, dann geht es raus auf den Schulhof – rauchen und nervös aufs Handy schauen. Gegen 18.30 Uhr kommen erste Zahlen der Nachrichtenagentur Anka Haber Ajansı, die Kılıçdaroğlu vorne sehen, ein kurzer Moment der Hoffnung.

Rund eine Stunde später hat die sich zerschlagen – Erdoğan liegt uneinholbar in Führung. In der TİP-Partei­zentra­le ist es derweil merklich voller geworden, viele vor allem junge Parteimitglieder sind von ihren Beobachtungen zurückgekehrt und verfolgen gemeinsam die Meldungen der neuesten Zahlen. Kurz nach 20 Uhr fahren die ersten Autokorsos von AKP- und MHP-An­hänger:innen auf der Hauptstraße an der TİP-Parteizentrale vorbei. Die Leute hupen, wedeln mit Fahnen und zeigen wahlweise die islamistische Rabia-Geste mit den vier gereckten Fingern, ein ­Erkennungszeichen der Muslimbruderschaft, oder den Wolfsgruß der rechtsextremen Grauen Wölfe.

Kopfschüttelnd verfolgen die Parteimitglieder das Schauspiel vom Fenster aus. Demet, eine der Älteren, vertreibt die Leute schnell von Fenster und Balkon, das mit Fahnen und Girlanden deutlich als solches wahrnehmbare Parteibüro könnte durchaus ein Angriffsziel sein. Wenig später verkündet Demet dann die vollständige Räumung des Büros aus Sicherheitsgründen. Alle müssen das Gebäude verlassen und machen sich auf den Heimweg – für sich allein mit den Gedanken an fünf weitere Jahre unter Erdoğans Regime.

* Name von der Redaktion geändert.