Erdoğans Wähler in Deutschland

Anatolische Ignoranz

Die meisten der in Deutschland lebenden Türken, die an der Präsidentschaftswahl teilnahmen, votierten für Recep Tayyip Erdoğan: 67 Prozent bekam er hierzulande und damit mehr als in der Türkei. Die Zukunft des Landes tangiert seine in Deutschland lebenden Wähler allerdings kaum.
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Anreisen, warten, wählen und abreisen. Das kann mitunter einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Wer nimmt so etwas freiwillig und gerne in Kauf? Offensichtlich mehrheitlich Wähler des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie hatten gerade die Möglichkeit, bei den Parlamentswahlen und den zwei Wahlgängen für das Präsidentenamt in einem der wenigen türkischen Generalkonsulate mitzuentscheiden, wer über die Zukunft des Landes bestimmen soll.

Was aber bewegt solche Wähler, die in einem anderen Land wählen als dem, in dem sie leben, den türkischen Dauerpräsidenten im Amt zu bestätigen? Es gibt zwar keine empirische Forschung, doch die Deutungsangebote sind vielfältig. Ist das Wahlverhalten mit Protest, Trotz und Diskriminierung oder eher mit Identität, Milieubindung und Überzeugung erklärbar? Deutschland sinniert abermals, wie es dazu kommen konnte – inzwischen ist das zu einem regelrechten Ritual geworden, wiederholt es sich doch nach jeder türkischen Wahl.

Den Erdoğan-Wähler tangiert dies alles kaum; ob er hierzulande Diskriminierung erleidet und deswegen aus Trotz und Protest zur Heimatverbundenheit gefunden hat, wie etwa das ZDF vermutet – er wählt so, wie er wählt. Ihm kann keinesfalls entgangen sein, wie es um die Freiheit in jenem Land steht, das er lediglich aus dem durch die galoppierende Inflation immer günstigeren Sommerurlaub kennt. Im krisengeschüttelten Alltag der Türkei wird er bestimmt nicht leben wollen.

Der in Deutschland lebende Erdoğan-Wähler kämpft um billige Flugtickets in die Urlaubsheimat – die Not an Ort und Stelle interessieren ihn nicht.

Dennoch fremdelt er nicht mit diesem abgewirtschafteten Land, das er auch noch Heimat nennt. Es kann nicht seine Heimat sein, und doch ist sie es offenbar. Eine schillernde Figur ist der Erdoğan-Wähler, nicht weil er, was banal wäre, aus reaktionärer Gesinnung heraus wählt, sondern trotz allen Wissens um die Zustände in der Urlaubsheimat zum türkischen »Reis« (Führer) ja sagt. Göttlich, makellos, einfach perfekt muss dieser Erdoğan sein, dünkt es dem treuen Wähler.

Man könnte meinen, die nach dem Wahlsieg mit Hupkonzert und Autokorso zelebrierten Feierlichkeiten ersetzten die seit 2002 ausbleibenden WM-Erfolgsfeiern (die Türkei wurde damals Dritter). Irgendwas muss diese aufgepumpte Identitätswilligkeit schließlich feiern. Nur was?

Zumindest ermöglicht die türkische Wirtschaftspolitik dem Erdoğan-Wähler inzwischen, seinen Nützlichkeitserwägungen freien Lauf zu lassen. Noch nie war die türkische Lira dermaßen abgewertet. Als Auslandstürke kehrt der Erdoğan-Wähler deshalb aus dem inflationsgeplagten Urlaubsland mit gefälschter Markenkleidung und billig erstandenem Goldschmuck zurück, während die Angehörigen, die in der Provinz leben, ihren aufopferungsvollen Überlebenskampf um Brot und Zwiebeln führen müssen.

Dem Land gehe es nicht so schlecht, heißt es in Dauerberieselung der türkischen Staatsmedien. Dass das nicht stimmt, hatte sich erst im Februar deutlich gezeigt, als das jüngste große Erdbeben das schwache Krisenmanagement der türkischen Regierung offenlegte. Die Medien sollten darüber jedoch nicht berichten. Der Regierung sei es lieber gewesen, das Unglück als reine Naturkatastrophe darzustellen, der man machtlos ausgeliefert sei, berichtete das Handelsblatt. Und auch wer an die leeren Kochtöpfe der Inlandstürken erinnert, könne demnach nur ein Nestbeschmutzer sein.

Der in Deutschland lebende Erdoğan-Wähler kämpft eher um billige Flugtickets in die Urlaubsheimat – die Not an Ort und Stelle interessieren ihn nicht. Diese Ignoranz harmoniert mit der jener Inlandstürken, die nur schwer über die Runden kommen und gleichwohl zum »Reis« ebenso ja sagen. Das Elend in der anatolischen Provinz, in jenen AKP-Hochburgen, aus denen auch die hiesigen Erdoğan-Wähler zumeist stammen, ist zwar durch die traditionellen Lebensumstände nicht so existentiell wie in den Großstädten und Industriezentren, in denen die Mehrheit gegen Erdoğan stimmt – doch die Auslandstürken sind nicht so heimatverbunden und selbstlos, wie sie sich geben: Schließlich leben sie hier und nicht dort.