Sina Arnold, TU Berlin, über Antisemitismus bei Migranten und Muslimen

»Die Kategorie ›Muslim‹ ist nur bedingt aussagekräftig«

Immer wieder wird über »muslimischen«, »arabischen« und »migrantischen« Antisemitismus debattiert. Was diese Begriffe genau bedeuten, ist dabei häufig unklar. Der Mediendienst Integration veröffentlichte vergangene Woche die Broschüre »Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen«, in der die wichtigsten Studien zum Thema ausgewertet werden. Die Jungle World sprach mit der verantwort­lichen Autorin, Sina Arnold von der TU Berlin.

Was sind die Probleme in der Berichterstattung über Antisemitismus?
In der medialen Berichterstattung findet sich einerseits eine – antirassistisch motivierte – Verharmlosung, als gäbe es Antisemitismus nur unter weißen Deutschen. Andererseits findet sich stärker noch eine – rassistisch motivierte – Externalisierung, als wäre Antisemitismus vor allem ein Problem von Migrant:innen oder Muslim:innen. Diese Importthese ist angesichts der Kontinuität des Antisemitismus im Land der Täter natürlich absurd. Eine Studie unter mehr als 500 Juden und Jüdinnen in Deutschland hat gezeigt, dass 84 Prozent finden, dass der Antisemitismus auch ohne die – oft muslimischen – Geflüchteten ein Problem in Deutschland ist.

Was sind die Haupterkenntnisse der von Ihnen ausgewerteten Forschungsarbeiten?
Antisemitische Einstellungen sind in der ganzen ­Gesellschaft weit verbreitet. Bei Menschen mit Migra­tionshintergrund sowie bei Muslim:innen gibt es ­einige Besonderheiten: Manche Studien zeigen niedrigere Zustimmungswerte zu sekundärem Antisemitismus, der die Shoah relativiert und die Auseinandersetzung mit ihr abwehrt, aber höhere Zustimmung zu israelbezogenem Antisemitismus. Gleichzeitig gilt es zu betonen, dass die Kategorien »Migrationshintergrund« oder »Muslim« nur bedingt aussagekräftig sind. Während etwa 25 Prozent der Sunnit:innen in Deutschland das Judentum als Bedrohung wahrnehmen, sind es unter Schi­it:in­nen 13 Prozent.

Bei Christen in Deutschland ist dieser Wert geringer, laut Religionsmonitor acht Prozent. Muslime weisen Ihrer Broschüre zufolge zudem höhere Zustimmungswerte bei so­genanntem klassischem Antisemitismus auf, also bei Vorurteilen über Juden als Gruppe. Warum sind Kategorien wie »Muslim« und »Migrationshintergrund« aber Ihrer Ansicht nach wenig ­aussagekräftig?
Beim Migrationshintergrund gibt es große Unterschiede zwischen Herkunftsländern sowie nach Staatsbürgerschaft und Generation. Eingebürgerte stimmen antisemitischen Aussagen seltener zu als Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Und mit der Länge des Aufenthalts in Deutschland nimmt die Zustimmung zu antisemitischen Aussagen ab. Anstatt über »die Muslime« zu sprechen, muss man in politischen und medialen Debatten also stark differenzieren.

Bei antisemitischen Vorfällen gibt es eine auffällige Diskrepanz: Es werden vergleichsweise we­nige Taten im Bereich des islamischen Antisemitismus registriert, sowohl von der Polizei als auch von zivilgesellschaftlichen Beobachtungsstellen. Gleichzeit geben von antisemitischer Gewalt ­Betroffene in Umfragen häufig Muslime als Täter an. Sie deuten an, diese Identifizierung könne in einigen Fällen womöglich unzutreffend sein – gibt es noch andere mögliche Erklärungen für die ­Diskrepanz?
Wenn sich jemand nicht eindeutig als Muslim identifiziert – etwa durch entsprechende Kleidungsstücke oder Aussagen –, dann kann man von außen ja nicht sehen, woran die Person glaubt. Die Polizei erfasst bei Tatverdächtigen nicht die Religionszugehörigkeit, sondern die mutmaßliche Ideologie hinter der Tat. Im Zweifelsfall klassifiziert sie antisemitische Straftaten oft als »rechtsextrem«. Deshalb müssen auch diese Zahlen stets mit Vorsicht genossen werden.

Die Expertise »Antisemitismus unter Menschen mit Migrationshintergrund und Muslim*innen« können Sie hier lesen.