Das Eisenbahnunglück in Griechenland war Resultat der Sparpolitik

Tödliche Austerität

Die Kollision zweier Züge in Nordgriechenland war eine Folge fehlender Sicherheitsmaßnahmen. In vielen Städten wird nun gegen die konservative Regierung und die Sparpolitik protestiert.

Auch am Sonntag demonstrierten in den griechischen Städten wieder Zehntausende. Seit dem Zugunglück vom 28. Februar ist in Griechenland nichts mehr wie vorher. Beim Frontalzusammenstoß zweier Züge bei Tempi im Norden des Landes starben mindestens 57 Menschen, mehr als 70 wurden verletzt. Das war jedoch nicht der alleinige Anlass dafür, dass in den vergangenen Wochen überall im Land bei Demonstrationen der Ruf »Ihre Profite, unser Tod« zu hören war und in Fußball- und Basketballstadien organisierte Fans Parolen riefen, in denen sie Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis und seiner konservativen Regierung Mord vorwarfen.

Der Zusammenstoß eines Intercity-Zugs mit einem voll beladenen Güterzug war die Folge von Sparmaßnahmen bei Infrastruktur und Personal. Auf dem Gleisabschnitt gibt es zwar ein veraltetes elektronisches Leitsystem, doch wurden die Signale und Weichen manuell bedient – von unerfahrenem und mangelhaft ausgebildetem Personal.

Der Fahrdienstleiter, dem der fatale Fehler im Bahnhof von Larissa unterlief, der den Intercity auf Kollisionskurs schickte, war erst seit wenigen Wochen im Amt. Er sollte ursprünglich ab dem 1. März neben einem erfahrenen Fahrdienstleiter weiter ausgebildet werden. Er hatte wegen des Sparkurses vom Kofferträger bei der Eisenbahn zum Kurier für Schulbücher beim Bildungsministerium umgeschult. Mit 59 Jahren nutzte er als Beamter die Möglichkeit, nach einem Schnellkurs in Verkehrsführung zurück zur Bahn zu wechseln, und war zum Zeitpunkt des Unglücks trotz unzureichender Qualifikation allein für den Abschnitt verantwortlich.

Nun werden Sicherheitsprobleme auf kleinen Inselflughäfen wie Milos, Paros, Naxos und Syros sowie bei der Tram, S-Bahn und Metro von Athen bekannt.

Es sind solche Fakten, die selbst Angehörige von Todesopfern zu der Einsicht bringen, dass zwar der Fahrdienstleiter den Unfall verursacht hat, aber die mangelhafte Finanzierung der Infrastruktur und die politisch verfügten Sparmaßnahmen der Grund dafür sind. Nun werden Sicherheitsprobleme auf kleinen Inselflughäfen wie Milos, Paros, Naxos und Syros sowie bei der Tram, S-Bahn und Metro von Athen bekannt. Die Busse in Athen und Thessaloniki sind ebenso wie die Überlandbusse in schlechtem Zustand.
Es gab vor dem Eisenbahnunglück Warnungen, auch im Parlament. Verkehrsminister Kostas Karamanlis wies die Kritik der Fraktionen der linksgerichteten Syriza und der Kommunistischen Partei (KKE) noch am 20. Febru­ar zurück. Es sei »eine Schande, dass Sie Sicherheitsfragen ansprechen«, denn »die Eisenbahnen sind sicher und genügen allen Standards«. Nach der Kata­strophe trat Karamanlis zurück.

Deutlicher kann politisches Versagen kaum zu Tage treten, und das Eisenbahnunglück dürfte Einfluss auf die bevorstehenden Parlamentswahlen haben. Obwohl der Termin noch nicht offiziell verkündet worden war, galt als ausgemacht, dass die Wahlen am 9. April stattfinden würden. Nun wird mit einer Verschiebung gerechnet.

Die regierende konservative Nea Dimokratia von Mitsotakis hatte bislang in den Umfragen stets zwischen acht und zehn Prozentpunkte Vorsprung auf die linke Partei Syriza. Nun sind es gemäß einer neuen Umfrage von GPO zufolge nur noch 3,9 Prozentpunkte und die Nea Dimokratia liegt mit 29,5 Prozent erstmals bei den Prognosen zur kommenden Wahl unter 30 Prozent. Das Meinungsforschungsinstitut Interview sieht die Nea Dimokratia gar bei nur 28 Prozent. Doch auch Syriza büßt 0,5 Prozentpunkte ein, denn auch sie trägt Verantwortung für Privatisierungen und Sparmaßnahmen im öffentlichen Dienst.

Das Zugunglück droht, Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ernsthaft zu gefährden.

Sie gehörten zu den Maßnahmen, die Griechenland nach Ausbruch der Schuldenkrise von der Troika (Europäische Zentralbank, EU-Kommission und Internationaler Währungsfonds) aufgezwungen worden waren. Nach den Wahlen 2015 setzte Syriza unter dem damaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras die Auflagen der Kreditgeber um. Bei der sozialdemokratischen Pa­sok (mittlerweile umbenannt in Pasok-Kinal), die 2010 unter Giorgos Papandreou mit einer Vereinbarung mit dem IWF die Austeritätspolitik eingeleitet hatte, bewegen sich die Verluste auf ähnlichem Niveau wie bei Syriza. In den Umfragen legen deshalb derzeit die KKE und die Bewegung MeRA25 von Yanis Varoufakis zu.

Mitsotakis stellte nach seinem Wahlsieg 2019 Tausende Polizisten ein, während ansonsten im Staatsdienst gekürzt wurde, und trieb kostspielige Rüstungsprojekte wie den Kauf von F-35-Kampfflugzeugen voran. Dies und diverse Skandale wie die Abhöraffäre, Korruptionsvorwürfe und ein katastrophales Gesundheitsmanagement während der Pandemie hatten ihm bislang kaum geschadet. Doch das Zugunglück droht, Mitsotakis ernsthaft zu gefährden. Die Wahlen sollen möglichst spät stattfinden, es gibt sogar Überlegungen, die Legislaturperiode, die Anfang Juli endet, mit einem juristischen Trick um einen Monat zu verlängern.

Ein Streik im Transportsektor brachte am 8. März den öffentlichen Verkehr weitgehend zum Stillstand, am Donnerstag soll ein Generalstreik stattfinden. Die Zahl der Demonstrierenden auf den Straßen ist mit den Menschenmengen bei den Protesten gegen die Austeritätspolitik der Jahre 2011, 2012 und 2015 vergleichbar. Anders als damals tummeln sich keine Populisten unter den geordnet in Blöcken auftretenden Demonstranten. Die Parolen auch von Jugendlichen und Schülern zeugen von einer emanzipatorischen Grund­haltung und Klassenbewusstsein. Das macht den Regierenden Angst.