Die Republikaner verschärfen in ­zahlreichen Bundesstaaten das Wahlrecht

Die große Lüge

In zahlreichen US-Bundesstaaten sollen Untersuchungen Beweise für Donald Trumps Behauptung vom Wahlbetrug finden. Die republikanische Partei will Wahlgesetzgebungen in ihrem Sinne verändern.

Als am 6. Januar vorigen Jahres Tausende Anhänger des damaligen US-Präsidenten Donald Trump das Kapitol in Washington, D.C., stürmten, um die Anerkennung von Joe Bidens Sieg bei der Präsidentschaftswahl zu verhindern, behaupteten sie, sie wollten die Demokratie beschützen. Auch Trump ist bis heute nicht von der Behauptung abgerückt, die Wahl im November 2020 sei durch umfangreiche Wahlfälschungen manipuliert worden und Biden nicht der rechtmäßige Präsident.

»The Big Lie« wird dieses Manöver Trumps in der US-Presse nach einem von Adolf Hitler in »Mein Kampf« geprägten Ausdruck genannt: eine Pro­pagandalüge, die derart dreist ist, dass sie gerade dadurch auf ihre Anhänger überzeugend wirkt.

Trump nutzt die Frage des Wahlbetrugs als Loyalitätstest für republikanische Politiker.

Signifikanten Wahlbetrug gab es nicht, das hatte bereits einen Monat nach der Wahl der von Trump ernannte damalige Generalstaatsanwalt der USA, William Barr, öffentlich erklärt, der ansonsten als ultrakonservativer Hardliner und Trump-Loyalist bekannt ist. Unzählige unabhängige Untersuchungen kamen seitdem zu demselben Ergebnis. Dennoch glauben einer Umfrage von Ende Dezember zufolge 71 Prozent der Republikaner, dass die Wahl gestohlen worden sei.

Mitte Dezember veröffentlichte die Nachrichtenagentur Associated Press das Ergebnis einer monatelangen Untersuchung in den sechs Bundesstaaten Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, Pennsylvania und Wisconsin. In allen diesen Staaten hatte Joe Biden die Wahl gewonnen, mit einem aufaddierten Stimmenvorsprung von lediglich 311 257 Stimmen. Doch es wurden nur 475 Stimmen gefunden, bei denen Wahl­betrug vermutet werden könnte. Darunter sind nicht nur Stimmen für Biden – und die meisten von ihnen wurden ohnehin nicht gezählt.

In zahlreichen Bundesstaaten wurde in den vergangenen Monaten erneut die Präsidentschaftswahl untersucht, oft auf direkten Druck von Donald Trump hin. So in Texas, wo am 31. Dezember eine staatliche Untersuchungskommission ihre Ergebnisse vorstellte. Sie hatte eine Stichprobe von 3,9 Millionen abgegebenen Stimmen überprüft. Auch hier: kein Wahlbetrug.

Das Beispiel Texas zeigt, dass es Trump längst nicht mehr darum geht, die Wahl rückwirkend für sich zu entscheiden, sondern darum, die Legende vom Wahlbetrug durch immer neue Untersuchungen und Verschwörungstheorien am Leben zu erhalten. In ­Texas hatte er gegen Biden gewonnen, sogar mit einem Vorsprung von fast sechs Prozentpunkten. Trotzdem übte Trump starken Druck auf den republikanischen Gouverneur von Texas, Greg Abbott, aus, die Wahl zu untersuchen. »Ihre Bürger vertrauen dem Wahlsystem nicht«, schrieb er in einem offenen Brief im September. Abbott veranlasste daraufhin eine Untersuchung. Doch bevor diese auch nur ihre Arbeit aufnehmen konnte, diskreditierte Trump präventiv ihre Ergebnisse: Die Untersuchung sei »schwach«, schrieb er am 1. Oktober, es brauche eine »starke und echte« Untersuchung der Wahl.

Ähnlich ging Trump in anderen Staaten vor. In Wisconsin, wo er 2020 anders als 2016 mit einem hauchdünnen Abstand von knapp 20 000 Stimmen verloren hatte, veröffentlichte am 7. Dezember das den Republikanern nahestehende Wisconsin Institute for Law and Liberty das Ergebnis einer zehnmonatigen Untersuchung. Auch hier war das Ergebnis klar: »keine Be­lege für manipulierte Wahlzettel oder weitverbreiteten Wahlbetrug«. Doch auch hier hatte Trump versucht, das Ergebnis der Untersuchung präventiv zu diskreditieren. Die Republikaner in Wisconsin würden »hart daran arbeiten, die Wahlkorruption in Wisconsin zu verschleiern«, schrieb er in einer Mitteilung im Juni. »Fallt nicht auf ihre Lügen rein!« forderte er seine Anhänger auf und drohte den verantwortlichen Republikanern damit, ihre Abwahl zu unterstützen, sollten sie nicht eine »vollständige forensische Untersuchung« organisieren.

Wie sich Trump eine solche Unter­suchung vorstellt, zeigt das Beispiel Arizona, wo Biden die Wahl mit einer knappen Mehrheit von 10 000 Stimmen gewonnen hatte. Republikanische Abgeordnete im Senat von Arizona ­gaben einer Firma namens Cyber Ninjas den Auftrag, auf Kosten des Bundesstaats die Wahl zu untersuchen. Das Ergebnis war eine monatelange Pseudoermittlung von »republi­kanischen ­Loyalisten und Verschwörungstheoretikern«, die »längst jeglichen Versuch aufgegeben hat, den Anschein zu erwecken, eine objektive Untersuchung zu sein«, wie es die New York Times ausdrückte. Unter anderem wurden Stimmzettel nach Bambusspuren untersucht, um die haltlose rechte Verschwörungstheorie zu belegen, sie seien aus Asien importiert worden.

Dem Vorbild von Arizona folgten republikanische Politiker in anderen Staaten und verfügten staatlich finanzierte Untersuchungen, mit denen aber parteiische Akteure betraut wurden. Die Untersuchung in Wisconsin leitet der Republikaner Michael Gableman, ein pensionierter Richter des Verfassungsgerichts des Bundesstaats, der bereits vor über einem Jahr öffentlich erklärt hat, die Wahl sei gefälscht worden. Gableman »traf diesen Herbst im Rahmen seiner steuerfinanzierten Untersuchung eine ganze Reihe von Verschwörungstheoretikern«, schrieb die Regionalzeitung Milwaukee Sentinel Ende November, darunter den Trump-Anhänger und Gründer der Firma My Pillow, Mike Lindell, der nach eigenen Angaben bisher 25 Millionen US-Dollar in die landesweiten Kampagnen zur Aufdeckung des angeblichen Wahlbetrugs investiert hat.

»Was hier passiert, ist Angst – Angst vor Donald Trump«, zitierte die New York Times Dan Schultz, einen ehemaligen republikanischen Bundesstaats­senator in Wisconsin. »Wir müssen den Anschein erwecken, als würden wir ­etwas tun, oder wir werden von Trump und seinen Anhängern bestraft. Es ist entsetzlich.« So nutzt Trump – den nach wie vor eine große Mehrheit der repu­blikanischen Wähler unterstützt – die Frage des Wahlbetrugs als Loyalitätstest für republikanische Politiker.

Nicht alle machen dabei mit. Am 30. Dezember ernannte die Regionalzeitung Arizona Republic »eine Handvoll Republikaner in Arizona« zu ihren »Arizonern des Jahres 2021«. Diese hätten sich »gegen den Gegenwind ihrer eigenen Partei gestellt und dabei das Risiko ihrer politischen Selbstzerstörung in Kauf genommen«, indem sie es ablehnten, sich an der Fabrikation der Wahlfälschungslegende zu beteiligen. Doch die allermeisten republikanischen Po­litiker stellen Trumps Behauptung, die Wahl sei gestohlen worden, nicht öffentlich in Frage.

Stattdessen nutzen Republikaner in zahlreichen Bundesstaaten die geschürte Angst vor Wahlbetrug, um die Stimmabgabe stärker zu reglemen­tieren. Denn in den föderalen USA sind die Bundesstaaten für Wahlen zuständig. Die Maßnahmen reichen von stärkeren polizeilichen Wahlkontrollen – in Florida soll dafür sogar eine neue Strafverfolgungsabteilung geschaffen werden – über eine Ausweispflicht bei der Stimmabgabe und eine stärkere bürokratische Kontrolle der Briefwahl. 33 derartige Gesetze in 19 Staaten seien bereits verabschiedet, über 200 würde 2022 noch verhandelt, schrieb die New York Times Anfang Dezember unter ­Berufung auf die Wahlrechtsorganisation Voting Rights Lab. Kritiker sprechen von teilweise starken Einschränkungen des Wahlrechts.

Wahlrechtsbeschränkungen sind in den USA politisch extrem umstritten. Im Allgemeinen profitieren die Repu­blikaner von einer niedrigen Wahlbe­teiligung; ihre Anhänger sind oft politisch involvierter und gehen verläss­licher wählen. Die Demokraten warnen davor, dass vor allem ärmere, ungebildete und von Rassismus betroffene Bevölkerungsgruppen von den Einschränkungen betroffen seien, und unterstellen den Republikanern einen ­gezielten Angriff auf die Demokratie. Sie erinnern daran, dass das allgemeine Wahlrecht erst vor wenigen Jahrzehnten gegen heftigen Widerstand der Republikanischen Partei durch­gesetzt wurde.

Doch gehen einige Maßnahmen der Republikaner noch weiter. So könnte das, woran Trump vor einem Jahr noch scheiterte, in Zukunft möglich werden. »In 41 Bundesstaaten«, warnte am Samstag die Redaktion der New York Times in einem dramatisch formulierten Meinungsartikel, »arbeiten republikanische Gesetzgeber daran, die Ziele der Aufrührer vom 6. Januar zu verfolgen – nicht indem sie Gesetze brechen, sondern indem sie sie erlassen.« In zahl­reichen Bundesstaaten wurden demnach bereits Gesetze erlassen oder werden derzeit Gesetze diskutiert, die die Durchführung von Wahlen stärkerer politischer Kontrolle unterstellen und es den Wahlbehörden erleichtern können, ein Wahlergebnis nicht anzuerkennen. Auch viele der Wahlbeamten, die vor einem Jahr noch dem Druck Trumps ­widerstanden und das Wahlergebnis anerkannt hatten, seien »mittlerweile aus dem Amt gedrängt und durch Personen ersetzt worden, die offen sagen, dass die letzte Wahl manipuliert gewesen sei«.