19.12.2019
Die Erfindung der Zukunft

Das Jahr der Greta

Die Zukunft musste erst einmal erfunden werden. Die Hoffnung, die kommende Zeit könne ein besseres Leben bringen, verbreitete sich in der kapitalistischen Epoche – um nun enttäuscht zu werden.

Der abessinische König Abrahar, der bereits Südarabien beherrschte, kam mit einer unaufhaltsamen Streitmacht. Seinen furchterregenden Kriegsele­fanten konnten die Stämme Mekkas nichts entgegensetzen. Doch als dem Leittier Mahmoud befohlen wurde, die Stadt zu betreten, gehorchte es nicht, unverrichteter Dinge musste Abrahar umkehren. Im Jahr dieses Feldzugs wurde der Prophet Mohammed geboren.

Das mythologische Element in dieser islamischen Überlieferung ist offenkundig. Doch gab es höchstwahrscheinlich einen Feldherren, der mit Elefanten durch die Arabische Halbinsel zog, denn das »Jahr des Elefanten« ist eine in der vorislamischen Zeit nachweisbare Datierung. Die lineare Jahreszählung war damals noch fast unbekannt, unter christlichen Gelehrten verbrei­tete sich langsam die von dem Mönch Dionysius Exiguus propagierte Idee, das mutmaßliche Geburtsjahr Jesu zum Ausgangspunkt der Zeitrechnung zu machen.

Das apokalyptische Denken war der erste Ausbruch aus dem zyklischen Zeitverständnis. Erstmals wurde eine bessere Welt vorstellbar.

Es gab noch keine Geschichte im heutigen Sinn des Wortes, sondern nur meist mythologisch gefärbte Überlie­ferungen und Traditionen, die der Legitimation von Herrschern und Gebräuchen dienten. Das kommende Jahr mochte eine gute oder schlechte Ernte bringen, wie man aus Erfahrung wusste, aber niemand hätte erwartet, dass es etwas Neues, ein anderes, gar besseres Leben bringt. Allenfalls rechnete man mit weiterem Verfall, einer Fortsetzung des Niedergangs vom Goldenen Zeitalter der Heroen und Titanen zum erbärmlichen Zustand, in dem sich die Menschheit zu der Zeit befand. Nicht wenige Menschen hofften, dass ein gnädiger Gott dem bald ein Ende bereiten werde.

Monarchen hatten früh begonnen, sich in die Zeit einzuschreiben, indem sie die Jahre seit dem Beginn ihrer Herrschaft zählen ließen. Aber das war kein Bruch mit der zyklischen Zeitvorstellung, denn mit der Machtübernahme des nächsten Königs begann die Zählung wieder von vorn.

Wo es an Monarchen mangelte, orientierte man sich an spektakulären Ereignissen. Heutzutage würden Mus­lime und Islamwissenschaftler gerne wissen, um welches Jahr es sich beim »Jahr des Elefanten« nach unseren Zeitvorstellungen handelte (vermutlich 570). Die Zeitgenossen Mohammeds interessierte das nicht, für sie war allein von Bedeutung, dass dieser als reifer, aber noch nicht alter Mann zum Propheten berufen wurde, also etwa 40 Jahre alt gewesen sein muss, und seine Geburt mit einem Zeichen Gottes verknüpft war. Die Menschen der Antike und des Frühmittelalters waren nicht zu dumm, eine lineare Zeitrechnung zu erfinden; sie hatten dafür keinen Bedarf.

Die Universalreligionen überschrieben die regionale und dynastische Zeitrechnung. »Nach Christus« oder »nach der Hijra« wurde zum verbindlichen Bezugspunkt. Mit dieser ideologischen Vereinheitlichung verordnete man der Zeitrechnung einen Anfang, der einmalig und nicht wiederholbar war, doch diese Neuerung war noch kein Abschied vom zyklischen Zeitverständnis. Selbst ein so innovativer Theoreti­ker wie Ibn Chaldoun, der spätmittelalterliche Pionier der Sozialwissenschaft, blieb einem Weltbild verhaftet, in dem der Aufstieg und der Verfall der Reiche immer wieder ohne Weiterentwicklung aufeinanderfolgten. Allenfalls sprach man von einem weiteren Niedergang, einer noch stärkeren Abkehr vom einst gottgefälligeren Leben. Es gab keine Zukunft, auf die man sich hätte freuen können.

Oder doch? Die Vorstellung, dass die Welt dereinst untergehen würde, ent­wickelten bereits frühe antike Kulturen wie die Assyrer. Persische Zoroastrier waren wohl die ersten, die an einen verheerenden letzten Kampf zwischen Licht und Finsternis glaubten, auf den ein gänzlich neues, besseres Leben folgen sollte. Die Juden übernahmen die Vorstellung, nach einer globalen Kata­strophe werde ein »Reich auf Erden sein, welches wird gar anders sein denn alle Reiche« (Daniel 7:23). Auf dieser Grundlage entwickelte sich die christliche und islamische Apokalyptik.

Das apokalyptische Denken hat zu Recht einen schlechten Ruf, historisch betrachtet war es aber der erste Ausbruch aus dem zyklischen Zeitverständnis. Erstmals wurde eine bessere Welt vorstellbar, eine Welt ohne Armut, Hunger, Gewalt und Krankheiten, jedoch nur durch das Eingreifen Gottes und um den Preis einer großen Säuberung, die selbst Stalin vor Neid erblassen lassen würde. Errettet wird nur die kleine Schar der wahren Gläubigen und Gottesstreiter. Wenigstens denen aber geht es nach der Apokalypse gut.

In der Endzeiterwartung mischen sich Angst und Hoffnung. Die Zeit der Ungerechtigkeit endet, aber wird man selbst zu den Erwählten gehören? Und was tun, wenn Gott trödelt, obwohl die Zeichen der nahenden Apokalypse (Tyrannei, Sittenverfall, Krieg, Hunger, Seuchen) unverkennbar sind? Christliche wie muslimische Geistliche waren sich der Brisanz der Apokalyptik bewusst, die eine heilsgeschichtliche Legitimation für Gewaltanwendung darstellen konnte, und betonten fast einhellig, dass nur Gott den Zeitpunkt des Weltgerichts kenne und der Mensch geduldig abwarten müsse.

Gewalttätige apokalyptische Bewegungen waren, gemessen am Zustand der Welt, erstaunlich selten; im christlichen Europa traten sie vornehmlich in den Jahrzehnten nach der Reformation in Erscheinung. Wesentlich häufiger entstanden antiapokalyptische Bewegungen, die zu Reue, Buße und Umkehr aufriefen, um das drohende göttliche Strafgericht abzuwenden, etwa pazifistische religiöse Reformgruppen des christlichen Mittelalters wie die Beginen und Begarden, oder die autoaggressive Geißlerbewegung.

Unterdessen entwickelten sich langsam die Voraussetzungen für die Erfindung der Zukunft. Die Philosophie löste sich von der Religion, der sie ein Jahrtausend lang unterworfen gewesen war, das Bürgertum begann sich vom Adel zu emanzipieren und Kapital zu akkumulieren. Das Kapital bedurfte einer Zukunft. Bisherige Klassengesellschaften hatten auf der Aneignung des landwirtschaftlichen Mehrprodukts beruht. Der Reichtum konnte nur durch Eroberung oder Erschließung von Agrarland vermehrt werden – mehr vom Gleichen. Die Kapitalverwertung hingegen erfordert die ständige Erschließung neuer Geschäftsbereiche und Profitquellen. Ein entwickeltes Kreditsystem beruht auf der Gewissheit, dass in der Zukunft mehr produziert wird, diese also anders aussieht als die Gegenwart.

Erst mit dem Kapitalismus und der seine Entwicklung begleitenden Aufklärung entstand die Idee des Fortschritts. Den brachte die Entfaltung der Produktivkräfte, und auf dem Höhepunkt kapitalistischer Siegesgewissheit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war vom »Ende der Geschichte« die Rede, eine Formulierung, in der – jenseits der Intention ihres Erfinders Francis Fukuyama – oft die Idee mitschwang, der Kapitalismus habe das »neue Jerusalem« geschaffen, kein Paradies zwar, aber eine Welt, in der die Menschen jedes Jahr ein bisschen mehr von den alten Plagen erlöst werden.

Dieser Illusion kann man sich nur noch mit großen ideologischen Anstrengungen hingeben. Selbst wer die ungleiche Entwicklung, die Zumutungen des lohnabhängigen Alltags und unzählige andere Probleme zu ignorieren oder kleinzureden gewillt ist, muss zur Kenntnis nehmen, dass der Kapitalismus die Lebensgrundlagen des größten Teils der Menschheit erheblich schädigt oder gar zerstört.

Die alten Ideen und religiösen Deutungsmuster sind nicht verschwunden, es ist daher keineswegs verwunderlich, dass in der Klimadebatte Muster des apokalyptischen Denkens auftauchen, nicht allein in den Untergangsprophezeiungen. Für jene, die in naiver oder gewollter politischer Enthaltsamkeit fordern, die Regierungen müssten endlich »das Richtige« tun, scheint die Rettung nur durch das Eingreifen des säkularisierten höchsten Wesens, des Staates, denkbar zu sein.

Die Klimabewegung ist jedoch eine antiapokalyptische Bewegung, die das Strafgericht abwenden will; beginisch und begardisch bei »Fridays for Future«, tendenziell geißlerisch bei »Extinction Rebellion«, wo man allerdings doch lieber Kunstblut verwendet als das eigene. Mit dem apokalyptischen Denken sind Gefahren verbunden. Sollte die Klimabewegung, deren Entwicklung noch nicht absehbar ist, sich auf den Aufruf zur individuellen Umkehr, zum Konsumverzicht, konzentrieren, droht eine Zeit unerfreulicher Tugendpredigten. Die häufig in apokalyptischer Manier heraufbeschworene »Öko-Diktatur« hingegen bedürfte einer solideren Basis als einer braven Jugendbewegung. Relevante Kapitalfraktionen, hohe Bürokraten und Offiziere müssten sich für den Klimaschutz verbünden und putschen – kein sonderlich realistisches Szenario.

Die real existierende apokalyptische Bewegung besteht aus den Unternehmen, die fossile Brennstoffe produzieren, nutzen oder auf deren Nutzung angewiesen sind, sowie aus deren politischen Repräsentanten. Man kann lange darüber rätseln, was in den Köpfen der Verantwortlichen vorgeht, doch sicherlich ist das Strafgericht, das unweigerlich auch ihren Profit mindern wird, nicht ihr Ziel. Anders verhält es sich möglicherweise mit der extremen Rechten, deren Leugnung des Klimawandels eine Lüge sein könnte, hinter der ein Interesse steht. Das absehbare Desaster dürfte eine Herausforderung für die aus ihrer Sicht verweichlichte »weiße Rasse« darstellen, wird aber mutmaßlich vor allem jene schädigen, die man ohnehin hasst. Die globale Erwärmung könnte ihre letzte Chance sein, die white supremacy auf diesem Planeten zu retten.

Im Rahmen des Kapitalismus lässt sich die globale Erwärmung allenfalls bremsen, die Zukunft muss neu erfunden werden. Doch man muss nicht alle alten Gebräuche verwerfen, manche könnten sogar wiederbelebt werden. Die lineare Zeitrechnung ist zweifellos nützlich, doch spricht wenig dagegen, sie um eine Benennung der Jahre nach bedeutenden Geschehnissen zu ergänzen. 2019 war das Jahr der Greta. Mal sehen, was das nächste bringt.