Nach einem mutmaßlichen ­»Ehrenmord« kommt es in der Westbank zu Protesten

Nicht mehr stillhalten

Ein mutmaßlicher »Ehrenmord« führt in der Westbank zu Protesten. Einige geben Israel die Schuld, doch werden nun auch die Missstände in der palästinensischen Gesellschaft thematisiert.

Seit drei Wochen demonstrieren Frauen, aber auch viele Männer in der palästinensischen Westbank – nicht gegen Israel, sondern gegen sogenannte Ehrenmorde, gegen ein veraltetes Strafgesetzbuch und toxische Männlichkeit. Gleichzeitig ändert sich in sozialen Medien und Blogs die Debatte – zumin­dest ein bisschen. Wie in vielen ­Ländern während des »arabischen Frühlings« bereits vor acht Jahren, entdecken nun auch in der Westbank einige, dass die Fokussierung auf Israel zu lange dazu geführt hat, Probleme in der eigenen Gesellschaft zu ignorieren.

Die Vorgänge um den mutmaßlichen Mord an Israa Ghrayeb waren dramatisch und schon Ende August berichteten etliche arabische Medien ausführlich darüber. Anfang August hatte die beliebte Modebloggerin auf Instagram Fotos von sich und einem Mann gepostet: Es war ihr Verlobter, offenbar hatte das Paar den Segen ihrer Eltern. Doch ihre Cousins, ihr Bruder und ihr Schwager sahen trotz Verlobung die Familienehre beschmutzt.

Ihr Bruder reiste sogar aus Kanada an, um Ghrayeb mit weiteren männlichen Verwandten im Haus ihrer Eltern zu stellen. Ob die 21jährige aus Furcht, totgeschlagen zu werden, aus dem Fenster im zweiten Stock sprang oder gestoßen wurde, ist nicht klar. Sie kam mit angebrochener Wirbelsäule ins Krankhaus und postete von dort Nachrichten auf Instagram über den Angriff ihrer Verwandten sowie ihre bevorstehende Operation an der ­Wirbelsäule.
Doch auch im Krankenhaus war sie vor ihren Verwandten nicht sicher. Auf einer Aufnahme, die in sozialen Medien kursiert, sieht man einen Krankenhausflur und hört das Schreien einer jungen Frau in Todesangst. Die ­Aufnahme soll eine Krankenschwester gemacht haben. Danach erwirkte die Familie, dass Israa Ghrayeb entlassen wurde, ohne Operation. Zu Hause verstarb sie kurz darauf am 22. August. Inzwischen haben Untersuchungen ergeben, dass sie aufgrund ihrer Verletzungen an Sauerstoffmangel starb.

 

Seit ihrem Tod gibt es Straßenproteste. Auf Twitter gibt es oft im Minu­tentakt Nachrichten unter dem Hashtag »Wir sind alle Israa«. Mohammed Shtayyeh, der Ministerpräsident der palästinen­sischen Autonomiebehörde, versprach bereits Ende August, die bestehenden Gesetze zu überprüfen und alles Nötige zu unternehmen, um Israa Ghrayebs Mörder vor Gericht zu bringen. Vergangene Woche erhob die Generalstaatsanwaltschaft Anklage wegen Mordes gegen drei ihrer Verwandten.

In den palästinensischen Gebieten sieht das Gesetz bei sogenannten Ehrenmorden strafmildernde Umstände ge­geben, auch Straffreiheit ist möglich. Darum wohl erklärte der Staatsanwalt, im Fall Israa Ghrayebs liege kein Ehrenmord vor. Die Protestierenden hingegen fordern die Abschaffung dieser Klausel, die noch aus dem jordani­schen Strafgesetz stammt. In Jordanien selbst wurde die Klausel 2017 gestrichen – wie ähnliche Regeln in vielen arabischen Ländern in den vergangenen Jahren.

In den palästinensischen Gebieten hatten Frauenrechtsorganisationen bereits 2004 der Regierung einen Entwurf zur Änderung zahlreicher frauendiskriminierender Gesetze vorgelegt. Ab 2011 drängten sie stärker auf die Erfüllung ihrer Forderungen, nicht zuletzt weil in den Nachbarländern viele Gesetze überarbeitet wurden. Doch erst 2018 unterzeichnete Präsident Mahmoud Abbas als erste Reform die Abschaffung des Gesetzes, das vorsah, dass Vergewaltiger straffrei bleiben, wenn sie ihr Opfer heiraten.

In den palästinensischen Gebieten kommen Reformen langsam voran. Vom »arabischen Frühling« und seinen Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen spürte man hier nur wenig. Das liege an der israelischen Besatzung, behaupten palästinensische Aktivistinnen. Und manche machen Israel auch für »Ehrenmorde« verantwortlich. Ein Argument lautet, die Spaltung zwischen der Fatah, die die Westbank kontrolliert, und der Hamas, die im Gaza-Streifen herrscht, habe das Parlament faktisch entmachtet. Der Präsident regiere per Dekret.

 

Man kann darüber streiten, ob die Besatzungspolitik bei der Einigung der verfeindeten Parteien stört, mit dem Machtkampf zwischen Fatah und Hamas hat sie ansonsten aber wenig zu tun. Zudem hat es in zahlreichen arabischen Ländern trotz diktatorischer Regierungen Reformen gegeben. Das lag dort auch an den lautstarken Forderungen von Feministinnen.

Solchen Reformen vorangegangen war eine Veränderung der Debatte. Frauenrechtlerinnen wiesen darauf hin, dass die Fokussierung auf den israelisch-palästinensischen Konflikt vor allem den alten Regimes nütze. Sie begannen, die Veränderung der eigenen Gesellschaft anzugehen, und erwähnten Israel nur noch am Rande.

Liest man die Blogs und Kommentare in sozialen Medien zu Israa Ghrayeb, kann man eine solch radikale Abkehr von der bisherigen Debatte noch nicht feststellen. Jede im Protest engagierte Aktivistin erwähnt die israelische Besatzung. Aber der Tenor ist ein neuer. So sagte etwa die Initiatorin des ersten Protests, Manar Raje, dem Nachrichtenportal Middle East Monitor: »Wir haben eine Besatzung und wir sind gegen die Besatzung. Aber wir fangen mit uns selbst an.« Auf dem Blog Baby Fist findet sich neben Attacken auf »die Zionisten« auch die Klage: »Der Kampf von Frauen für ihre Rechte passt nicht in die idealisierte Erzählung der palästinensischen Befreiung. In den Augen zu vieler Menschen lässt es uns schlecht aussehen und beschädigt die Chancen, internationale Unterstützung zu bekommen, wenn wir über Frauen und LGBT-Rechte in Palästina reden. Deshalb gehen Bilder eines zerstörten Hauses viral, während der Mord an einem Mädchen unter den Teppich gekehrt wird.«