Deutschland profitiert vom Gasgeschäft mit Russland

Russisches Gas für deutsche Ambitionen

Der Ausbau der Nord-Stream-Pipeline kann Deutschland und die von ihm dominierte EU unabhängiger von den USA und deren Verbündeten in Osteuropa machen. Innerhalb der EU schürt Deutschand damit jedoch einen alten Konflikt.

»Wenn der russische Gastransit durch die Ukraine wegfällt, verliert das Land die Garantie eines Schutzes vor weiteren russischen Aggressionen«, befürchtet der polnische Außenminister Jacek Czaputowicz. Polen und die baltischen Länder sehen in Nord Stream 2 eine Gefahr für die Sicherheit der Region und würden das Projekt gerne verhindern. Außenpolitisch könnte sich die EU-Osterweiterung, die Deutschlands Unternehmen nicht nur zollfreie ­Absatzmärkte, sondern auch ein Heer äußerst billiger und williger Arbeitskräfte beschert hat, für die Bundesregierung als Hemmnis erweisen. Denn die nationalistischen Formierungen im postsowjetischen europäischen Raum richten sich vor allem gegen Russland. Spätestens seit die deutsch-französische Achse im Dritten Golfkrieg gemeinsam mit Wladimir Putin den USA die Gefolgschaft verweigerte, hat sich der Kampf um die politische Hegemonie in diesem einstmaligen deutschen Hinterhof zugunsten der USA entschieden.

Kaum ein Thema erregt die Gemüter dabei regelmäßig so wie die Energie­politik. Nach wie vor stammen zwei Drittel der Gesamtexporterlöse Russlands aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft. Wer dem Land politisch und ökonomisch zusetzen will, findet hier den naheliegenden Ansatzpunkt. Das aber ist nicht im deutschen Interesse.

Finanzielle Interessen spielen auch bei der Ablehnung der deutschen Energiepolitik durch die US-Regierung eine Rolle. Seit 2016 bewerben die USA ­verstärkt ihr durch Fracking gewonnenes Flüssiggas als Alternative zum ­russischen Erdgas. Dies dürfte aber kaum der zentrale Inhalt der US-amerikanischen Kritik sein, wie die Verlaut­barungen verschiedener Institutionen in den USA zeigen.

Die Abhängigkeit des Industriestandorts Deutschland von ausländischen Energieträgerlieferungen ist nach wie vor die Schwachstelle der deutschen Wirtschaft und einer der Gründe für die regelmäßigen Versuche, die antirussischen Tendenzen der transatlantischen Fraktion innerhalb der EU und der Nato zu unterlaufen. Aus keinem anderen Land bezieht Deutschland mehr Öl oder Gas als aus Russland – mehr als 40 Prozent der Erdgas- und etwa ein Drittel der Erdölimporte stammen von dort. ­Umgekehrt ist die Abhängigkeit noch größer: Über 50 Prozent der russischen Energieexporte gingen im vergangenen Jahr in die Bundesrepublik. Die Ausfälle aufgrund der US-Sanktons­politik können auch durch neue Partner wie die Volksrepublik China – die seit 2014 im Bau befindliche Erdgaspipeline »Kraft Sibirens« aus der russischen Teilrepublik Jakutien und der Oblast Irkutsk an die Pazifikküste soll Ende des Jahres eröffnet werden – nicht kompensiert werden. Vorraussichtlich wird auch in Zukunft Europa für Russlands Energierohstoffexporte zentral bleiben.

Da schien die im Sommer 2015 durch Alexej Miller, den Vorstandsvorsitzenden von Gazprom, verkündete Verdoppelung der Kapazität der Nord-Stream-Pipeline vom russischen Wyborg nach Lubmin in Mecklenburg-Vorpommern durch den Bau einer zweiten Röhre, bekannt als Nord Stream 2, nur die logische Konsequenz zu sein. Einen »großen Coup« witterte damals die Süddeutsche Zeitung und das Handelsblatt titelte über eine »neue Europa-Strategie« Angela Merkels und ihres damaligen Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel (SPD), die beide wiederholt auf die »geopolitische Bedeutung« dieses Groß­projekts verwiesen. Mit einer Jahreskapazität von etwa 110 Millionen ­Kubikmetern würde der zehn Milliarden Euro teure Ausbau Deutschland nicht nur zur Drehscheibe der europäischen Energieversorgung und völlig unabhängig von teurem US-amerikanischem Flüssiggas und postsowjetischen Befindlichkeiten machen, sondern auch die Kontrolle über deutlich mehr als die Hälfte der Gesamtmenge in diesem zentralen Segment des ­europäischen Energiemarkts verschaffen. Die Zusammensetzung des Betreiberkonsortiums deutet darauf hin, wem das deutsch-russische Vertrauen bei der Verwirklichung dieser Strategie gilt: Neben dem Hauptanteilseigner Gazprom und den deutschen Konzernen Uniper und Wintershall gehören die Branchengrößen OMV, Royal Dutch Shell und Engie aus Österreich, den Niederlanden und Frankreich dazu. Zudem existieren enge Kooperationen mit Firmen der skandinavischen ­Ostseeanrainerstaaten bei dem Ausbau und der Wartung der Anlagen.

Bei so viel Kerneuropa und Kooperation mit Russland blieb Widerspruch aus Europas Osten nicht aus. Schon anlässlich des Baus der ersten Trasse ­waren die Konflikte virulent. 2006 hatte der damalige polnische Verteidigungsminister Radosław Sikorski den Vertrag mit dem Hitler-Stalin-Pakt verglichen. Zehn Jahre später wandten sich die Regierungschefs der drei baltischen Staaten, Ungarns, Polens, Rumäniens, Tschechiens und der Slowakei in einem offenen Brief gegen die neuerlichen Pläne und verwiesen auf die »potentiell destabilisierenden geopolitischen Konsequenzen« des weiteren Ausbaus der Ostseepipeline. Seitdem ist die Kritik an den Plänen der Bundesregierung nicht weniger geworden. Neben den antirussischen Impulsen sind es zumindest im Falle Polens und vor allem der in die Nato drängenden Ukraine auch geschäftliche Interessen, die den Streit befeuern. So könnten der Ukraine nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschafts­forschung (DIW) über 80 Prozent der Erdgastransite und damit der Gebühren von derzeit etwa drei Milliarden Euro verloren gehen. Für das Land, dessen Bruttoinlandsprodukt bei nur knapp 100 Milliarden Euro liegt, ein nicht unerheblicher Verlust.

Finanzielle Interessen spielen auch bei der Ablehnung der deutschen Energiepolitik durch die US-Regierung eine Rolle. Seit 2016 bewerben die USA ­verstärkt ihr durch Fracking gewonnenes Flüssiggas als Alternative zum ­russischen Erdgas. Dies dürfte aber kaum der zentrale Inhalt der US-amerikanischen Kritik sein, wie die Verlaut­barungen verschiedener Institutionen in den USA zeigen. Vor allem seit im vergangenen Frühjahr die heiße Phase bei Planung und ersten Ausbauarbeiten an Nord Stream 2 begann, verging kaum ein Monat, in dem Politiker aus den USA nicht darauf drängten, dagegen vorzugehen. Zunächst hatten im vergangenen März 39 Senatoren aus beiden Parteien den US-Finanzminister Steven Mnuchin aufgefordert, Sanktionen auszusprechen, um die Kooperation mit Russland zu verhindern. Nur wenige Tage später legte der Atlantic Council, einer der einflussreichsten Think Tanks der US-Außenpolitik, einen Bericht vor, der Sanktionen auf Basis des neuen Countering America’s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA) für möglich hält. In dem Bericht begrün­dete Sandra Oudkirk, eine Expertin für Energieressourcen im US-Außenministerium, das Szenario folgendermaßen: »Weil diese Entscheidung poten­tiell solch umfassenden Einfluss auf die nationale Sicherheit einiger unserer weltweit wichtigsten Partner hat, hat sie auch Auswirkungen auf unsere ­eigene nationale Sicherheit.«

Diese Sichtweise dominiert seitdem nicht nur die Äußerungen des US-Prä­sidenten, der Deutschland Anfang Juli auf dem Nato-Vorbereitungsgipfel als »total von Russland kontrolliert« bezeichnete, und seines Botschafters in Berlin, Richard Grenell, der zuletzt auf drohende Sanktionen für beteiligte deutsche und europäische Firmen verwies.

Die Beharrlichkeit der deutschen Politik beim Bemühen, trotz vieler Rückschläge langfristig die EU auch gegen innere oder äußere Gegner zu einem machtpolitischen Block auszubauen, sollte dennoch nicht unterschätzt werden.