100 Jahre Multikulti
Ausgangspunkt der Debatte war der Umstand, dass im späten 19. Jahrhundert die Einwanderung in die USA deutlich zugenommen hatte und die Immigranten größtenteils aus Mittel- und Osteuropa stammten. Diese waren nahezu ausschließlich katholischer und jüdischer Herkunft, wodurch sich die ethnische Zusammensetzung des Landes grundlegend änderte. Die Vormachtstellung der weißen, angelsächsischen Protestanten, der sogenannten WASPs, wurde geschwächt und infrage gestellt. Das führte zu heftigen Abwehrgefechten, was sich nicht zuletzt in der Neugründung und dem Erfolg des rassistischen, antikatholischen und antisemitischen Ku-Klux-Klan ab 1915 zeigte.
Auf der einen Seite plädierten die sogenannten Nativisten für eine privilegierte Stellung der alteingesessenen Bewohner. Sie wandten sich explizit gegen die neuen Einwanderer und forderten deren vollständige »Amerikanisierung«, also eine Anpassung an die WASP-Kultur. In Abgrenzung dazu entstand die Idee einer Bindestrich-Identität, die eine Verbindung von Herkunftskultur mit der Kultur der USA bedeutete, wie sie beispielsweise in den Bezeichnungen »Jewish-American« und »Irish-American« Ausdruck fand.
Den Nativisten waren hybride Identitäten ein Dorn im Auge. Theodore Roosevelt, ehemaliger US-Präsident, griff die »Bindestrich-Amerikaner« 1915 in einer Rede direkt an und erklärte, diese könnten niemals gute Amerikaner sein. »Die einzigen Menschen, die gute Amerikaner sein können, sind die, die Amerikaner sind und sonst nichts«, so Roosevelt. Nicht anders sah das Woodrow Wilson, der damals amtierende US-Präsident. Für ihn waren die Bindestrich-Amerikaner eine fünfte Kolonne, die ihren Bindestrich wie einen Dolch in die lebenswichtigen Organe der Republik rammen würden, so Wilson in einer Rede im Jahr 1919.
Intellektuelle Schützenhilfe erhielten die Nativisten von Akademikern wie dem Soziologen Edward Alsworth Ross. Als Professor für Soziologie an der Universität von Wisconsin hatte er 1914 das Buch »The Old World in the New« veröffentlicht. Das Buch war eine rassistische Tirade gegen Einwanderer aus Zentral- und Osteuropa, Irland und Italien, die eine Gefahr für die USA darstellten und, so Ross weiter, minderwertiges Blut in das amerikanische Volk einbrachten. Für Ross zeigte sich bereits an deren Physiognomie, dass sie von »niederer Intelligenz« seien. Auch für Juden hatte der Antisemit Ross nicht viel übrig. Diese seien nur am Geld interessiert, fühlten sich nicht an Vereinbarungen gebunden und hätten, wenn es ums Geldmachen gehe, keinerlei moralische Skrupel. Sie seien auch für den gesellschaftlichen Verfall verantwortlich, weil sie das Theater und die billigen Tageszeitungen kommerzialisiert hätten.
Gegen dieses xenophobe Geschrei regte sich Widerstand. Eine der führenden Stimmen in dieser Debatte war der Philosophieprofessor Horace Kallen, der seit 1911 ebenfalls an der Universität von Wisconsin lehrte. Kallen hatte beim großen amerikanischen Philosophen William James in Harvard studiert und war ein erklärter Anhänger seiner pluralistischen Philosophie. Diese beruhte auf der Annahme, dass unterschiedliche Lebenshintergründe und Erfahrungen zu unterschiedlichen Wert- und Wahrheitsvorstellungen führen.
Neben dieser philosophischen Prägung war für Kallen aber sein biographischer Hintergrund entscheidend: Er war jüdischer Immigrant. Geboren wurde Kallen 1882 im schlesischen Bernstadt. Sein Vater, orthodoxer Rabbiner aus Lettland, war 1885 im Zuge der sogenannten »Polenausweisung« als russischer Staatsbürger aus Preußen vertrieben worden, weshalb die Familie in die USA übersiedeln musste. Kallen wuchs im Bostoner Westend auf, unter Einwanderern aus Italien, Irland und Osteuropa.
Der Kontrast zu seiner Zeit als Student an der Harvard-Universität hätte nicht größer sein können. Seine Kommilitonen und Professoren entstammten nahezu ausnahmslos gutbetuchten, weißen, protestantischen Familien. Während seines Studiums entdeckte Kallen seine jüdische Herkunft neu. Er setzte sich bewusst mit seinem Judentum auseinander und war 1906 Mitbegründer der Harvard Menorah Society, eines jüdischen Kulturvereins für Studenten. Auch der Zionismus wurde für Kallen in der Zeit immer wichtiger. Er sah in einem jüdischen Staat die Möglichkeit, die Situation der amerikanischen Juden zu »normalisieren«, da sie dadurch ebenfalls auf ein Heimatland zurückblicken könnten, wie alle anderen Einwanderergruppen in den USA. Dieser Idee verschrieb sich Kallen ab 1910 und hatte als Berater von Louis Brandeis, der ab 1914 die zionistische Bewegung in den USA führen sollte, einen entscheidenden Einfluss auf deren Entwicklung.
Als Roosevelt während des des Ersten Weltkriegs gegen Einwanderer, Bindestrich-Amerikaner und alles Fremde wetterte, sah sich Kallen dazu aufgefordert, seine eigene Vorstellung von den USA darzulegen. Als Rahmen wählte er eine Rezension des Buches von Ross für die linksliberale Wochenzeitung The Nation. Unter dem etwas reißerischen Titel »Democracy versus the Melting-Pot« präsentierte er seine Idee in einem zweiteiligen Artikel am 18. und 25. Februar 1915.
Der Begriff des melting pot entstammte dem Titel eines Theaterstücks des britischen Schriftstellers Israel Zangwill, das 1908 seine Uraufführung erlebte. Darin wurden die USA als Schmelztiegel porträtiert, in dem die Differenzen der Einwanderer zu einem neuen amerikanischen Ganzen eingeschmolzen werden. Das Stück wurde von Nativisten begeistert aufgenommen, Theodore Roosevelt schrieb an Zangwill, dass ihn dieses in seinem Denken maßgeblich geprägt habe.
Dieser Vorstellung widersprach Kallen in seinem Artikel energisch: Die Nativisten würden sich zu Unrecht auf die amerikanische Tradition berufen, denn die politischen Grundsätze der USA, wie beispielsweise die Unabhängigkeitserklärung, hätten stets den gesellschaftlichen Pluralismus zum Ziel gehabt. In diesem frühen Entwurf eines pluralistischen Gemeinwesens war Kallen noch seiner Zeit verhaftet. Ihm ging es zwar um eine Verteidigung der Individualität, doch diese speiste sich für ihn damals hauptsächlich aus dem kulturell-ethnischen Umfeld, in dem das Individuum aufwächst. Er präsentierte in seinem Aufsatz keine präzise Definition von Kultur, vertrat damals aber den Standpunkt, es handele sich um einen determinierenden und statischen Faktor. Ökonomische und soziale Aspekte spielten für ihn hingegen eine untergeordnete Rolle.
Insbesondere die Vorstellung, Einwanderer könnten von heute auf morgen ihr kulturelles Erbe hinter sich lassen und stattdessen die vorherrschende Kultur annehmen, war für Kallen eine Illusion und eine Anmaßung der gesellschaftlichen Eliten. Vielmehr sollte zunächst ernstgenommen werden, so Kallen, dass der Mensch durch die Kultur in der unmittelbaren Umgebung geprägt wird. »Hinter ihm in der Zeit«, schrieb Kallen in seinem Aufsatz, »und vor allem qualitativ in ihm sind seine Vorfahren, räumlich um ihn herum sind seine Verwandten und seine Sippe, die mit ihm in eine weit entfernte gemeinsame Abstammung blicken. In all dem lebt er, bewegt er sich und hat sein Sein. Diese bilden buchstäblich seine natio.«
Diese nationes waren in den damaligen USA ein Fakt, den Kallen aus seiner Kindheit im migrantisch geprägten Bostoner Westend gut kannte. Die zentrale Frage war somit nicht, ob es eine kulturelle Vielfalt in den USA gab, sondern wie mit dieser faktischen Diversität umgegangen werden sollte. »Was soll aus dieser Kakophonie werden – ein Einklang oder eine Harmonie?« fragte Kallen und lieferte die Antwort mit der Skizze eines Gemeinwesen, wie er es sich vorstellte: »Seine Form ist die einer föderalen Republik; sein Wesen eine Demokratie der Nationalitäten, die freiwillig und autonom bei dem Vorhaben der Selbstverwirklichung durch die Perfektion der Menschen gemäß ihrer Art kooperieren. Die allgemeine Sprache des Gemeinwesens, die Sprache seiner großen politischen Tradition, ist Englisch, aber jede Nationalität drückt ihr Gefühls- und Willensleben in ihren unverwechselbaren ästhetischen und geistigen Formen aus. Das gemeinsame Leben des Gemeinwesen ist politisch-ökonomisch und dient als Grundlage und Hintergrund für die Verwirklichung der ausgeprägten Individualität jeder Nation, die dieses formt.«
Ein pluralistisches Amerika sollte den verschiedenen Ethnien kulturelle Autonomie bieten, so Kallen, politisch fußte dies aber auf einer gemeinsamen politischen Grundlage, der Demokratie und der Verfassung der USA. Wenn dies gelänge, so Kallen, dann könnte es zu einer »Orchestrierung der Menschheit« führen, bei der »jede ethnische Gruppe ein natürliches Instrument ist, ihr Geist und Kultur das Thema und die Melodie (der Orchestrierung). Die gesamten Harmonien und Dissonanzen und Missklänge machen die Symphonie der Kulturen aus, allerdings gibt es einen Unterschied: in der Musik wird die Symphonie geschrieben, bevor sie gespielt wird; in der Symphonie der Kulturen ist das Spielen das Komponieren, weshalb es in ihrem Fortschreiten nichts so Festgeschriebenes und Unausweichliches gibt wie in der Musik.«
Mit dem letzten Satz schwächte er seinen Determinismus entscheidend ab: Zwar ist die Herkunft festgelegt, die zukünftige Entwicklung war hingegen offen. Insgesamt war es eine optimistische Vision, die Kallen vorlegte, die potenzielle Probleme ausblendete und sich damit angreifbar machte. Doch sein Entwurf war zuallererst als Gedankenexperiment und als Gegenentwurf zum aggressiven Nativismus gedacht. Kurzfristig konnte Kallens Intervention die öffentliche Meinung nicht umstimmen. Der KKK erhielt regen Zulauf, Universitäten wie Harvard und Princeton führten einen Numerus clausus für Juden ein und die Einwanderung wurde ab 1921 gesetzlich massiv eingeschränkt.
Anders sah es mit Kallens ideengeschichtlicher Wirkung aus. Einen entscheidenden Einfluss übte er auf den Publizisten Randolph Bourne aus, der mit seinem berühmten Aufsatz »Transnational America« im Atlantic Monthly im Juli 1916 einen ähnlichen Ansatz vertrat. Auch er sah die Idee des melting pot als gescheitert an. Nicht die bestehenden Unterschiede sollten eingedampft werden, sondern stattdessen der Austausch zwischen den verschiedenen Ethnien gefördert werden. Stärker als für Kallen waren für Bourne Kulturen dynamische und fließende Kategorien. Amerika war nach Bourne ein einzigartiges soziologisches Gebilde, das sich von dem klassischen Gedanken der Nationalität zu einer kosmopolitischen Vision der »Transnationalität« entwickeln würde.
Einen weiteren wichtigen Einfluss übte Kallen auf seinen Kommilitonen Alain Locke aus, der 1925 als Herausgeber des Bandes »The New Negro« zum Begründer der afroamerikanischen Kulturbewegung Harlem Renaissance wurde. Kallen und Locke hatten sich während eines gemeinsamen Auslandsaufenthalts in Oxford kennen gelernt und sich dabei auch über Fragen des kulturellen Pluralismus ausgetauscht. Locke griff diesen Ansatz auf und wandte ihn auf eine Gruppe an, die in Kallens ausschließlich auf Einwanderer zielenden Ansatz nicht vorkam: die afroamerikanische Kultur. Wie Locke 1915 in einem Vortrag betonte, bei dem er sich auf Kallen bezog, konnten einzelne ethnische Gruppen im Rahmen eines Gemeinwesens nur durch Stolz auf die eigene Kultur ein stimmiges Selbst entwickeln. Dies war auch der Grund für Lockes Engagement im Rahmen der Harlem Renaissance, mit der er einen afroamerikanischen Beitrag zu Kallens »Symphonie der Kulturen« leisten wollte.
Auch Horace Kallen blieb bis zu seinem Tod im Jahr 1974 der Frage des kulturellen Pluralismus verpflichtet und entwickelte dieses Konzept an einigen Punkten entscheidend weiter. Bereits ein Jahr nach seinem berühmten Artikel veröffentlichte er einen weiteren Aufsatz zur Thematik. Darin wendete er den Bindestrich nicht mehr nur auf den ethnischen Aspekt an, sondern gab ihm eine umfassendere Bedeutung. Dieser durchdringe alle Ebene des Lebens, schrieb er und betonte, dass der Bindestrich zusammenführe und gerade nicht trenne.
Ab 1919 lehrte er als Gründungsprofessor an der New School for Social Research in New York und veröffentlichte 1924 die Aufsatzsammlung »Culture and Democracy in the United States«, in der er schließlich den Begriff des kulturellen Pluralismus für seine Theorie einführte. Hierin betonte er auch noch einmal, warum ihm die Vielfalt ein so zentrales Anliegen war: Ihm gehe es um eine lebendige Gesellschaft und die lebe vom Pluralismus, da nur individuelle Vielfalt und der Austausch ein dynamisches Gemeinwesen erhalten könne.
Der Siegeszug des Totalitarismus in Europa machte Kallen noch einmal deutlich, wie wichtig der gesellschaftliche Pluralismus war. Er hielt nicht länger am Prinzip der Abstammung fest und plädierte für einen Begriff von Kultur, der ausschließlich auf der freiweilligen Entscheidung des Individuums beruhte, sich einer Gruppe anzuschließen. Zudem forderte Kallen 1936 ein »Recht auf Anderssein«, das jedem Individuum zustehe und unveräußerlich sei. Den Abschluss fand Kallens Theorie schließlich im Jahr 1956 in dem Band »Cultural Pluralism and the American Idea«. Dort wandte er sich ausdrücklich gegen einen Pluralismus unveränderbarer und statischer Monaden, wie er ihn vier Jahrzehnte davor selbst formuliert hatte. Stattdessen sprach er von einem »fließenden, relationalen Pluralismus«, der davon lebt, das Individuen freiwillig Gruppen beitreten und austreten können: »Kulturen leben und wachsen im und durch das Individuum, und ihre Lebendigkeit ist eine Funktion individuell verschiedener Interessen und Verbindungen. Pluralismus ist das sine qua non ihres Fortbestehens und ihres erfolgreichen Wachstums.«
Sieben Jahre danach veröffentlichten Nathan Glazer und Patrick Moynihan ihre vielbeachtete Studie »Beyond the Melting Pot«, in der sie die Metapher des Schmelztiegels zurückwiesen. Am Beispiel von fünf ethnischen Gruppen in New York zeigten sie auf, dass die Identifikation mit der eigenen ethnischen Herkunft auch über mehrere Generationen hinweg anhält. Damit bestätigten sie die Thesen, die Kallen fast ein halbes Jahrhundert zuvor aufgestellt hatte. Einen Verweis auf ihn sucht man in dem Buch allerdings vergebens.