Bibel der Arbeit

Bei der Kritik fiel Oskar Lafontaine durch. Mit seinen antikapitalistischen Kalendersprüchen erobert der Ex-Finanzminister jetzt Bestseller-Listen und die Herzen der Lohnabhängigen.

Gegen und für Oskar Lafontaines "Das Herz schlägt links" ist alles vorgebracht worden, was die deutsche Kritik vorbringen kann. Anlässlich der Vorstellung des Werkes auf der Frankfurter Buchmesse wurde allseits humorig vermerkt, dass der Autor im Buch unentwegt gegen die "Mediengesellschaft" nörgelt, zugleich aber den Aufmarsch von 450 Journalisten und 35 Fernsehteams zur Pressekonferenz goutieren konnte.

Die taz hat dem Buch - unter Beachtung des redaktionsinternen Ideologienpluralismus - gleich drei Besprechungen gewidmet: Lafontaine fühle sich "von fast allen mies behandelt, schwer verletzt oder im Stich gelassen"; er präsentiere sich als Mischung aus "Wehmut und Rechthaberei, Mimose und Machtmensch, Pantoffelheld und Gegenpapst"; dem Buch fehle die "skandalöse Substanz", es sei "rappeltrocken geschrieben, gerade wenn es um Persönliches geht". Der Kabarettist Dieter Hildebrandt findet das Buch "so spannend wie die Stromrechnung".

Während die Prüfung der literarischen und charakterlichen Eignung des Autors zu einem einhellig negativen Ergebnis führte, sortiert sich die Kritik säuberlich in zwei Lager, sobald die politischen Perspektiven des ehemaligen Finanzministers in Augenschein genommen werden. Die Trennlinie verläuft entlang Lafontaines Plädoyer für eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte, für eine beschäftigungsorientierte Geldpolitik und für den Stopp der Umverteilung von unten nach oben: Den "Ideologen des Neoliberalismus" (Lafontaine) gilt so etwas als grober Unfug, und entsprechend wurden die Vorschläge Lafontaines auch abgekanzelt, exemplarisch in der Zeit von Werner Perger: "Lafontaines Buch (Ö) weist denn auch nirgendwohin. Er ist als Autor so befangen mit den Ursachen seines tragischen Scheiterns in der Politik, dass er auf eine Teilnahme am Diskurs um eine Erneuerung der Linken verzichtet."

Leider ist dem nicht so, und das ist auf der anderen Seite der Trennlinie auch erkannt worden. Lafontaine, schreibt Stefan Reinecke in der taz, "vertritt eine realpolitische, linke Alternative: eher pazifistisch gesonnen, vor allem aber darauf bedacht, den politischen Raum vor feindlichen Übernahmeversuchen der Wirtschaft zu schützen." In seinen besten Passagen sei das Buch "eine Streitschrift gegen das Modernisierungsgefasel, hinter dem stets eine Kapitulationsforderung an die Politik steht". In einer weiteren Rezension der taz konstatiert Markus Schubert unter der Überschrift "Der linke Herzschrittmacher", "Lafontaines Sicht der Dinge" sei "viel plausibler" als "Schröders Optik". Joachim Bischoff, Redakteur der Zeitschrift Sozialismus, bezweifelt, ob die "grundlegende Reform der hoch entwickelten kapitalistischen Gesellschaften" - wie von Lafontaine vorgezeichnet - als "autoritäre Operation weniger Politprofis" von oben gelingen kann. Ansonsten ist er ziemlich einverstanden: Trotz einiger "Zweifel und Widersprüche" sei "die Konzeption der Sozialdemokratie als Reformpartei gegenüber der modernistischen Anpassungsstrategie an die Weltmarktlogik vorzuziehen".

Dieser Respekt von Links mutet angesichts der Weisheiten, die Lafontaine in seinem Buch verkündet, eigenartig an. Eine willkürliche Auswahl:

O "Auch ein Spitzenpolitiker sollte das Recht haben, ungestört ein paar Tage mit seiner Familie verbringen zu können."

O "Kompromisse aber sind die Grundlage jeder verlässlichen Zusammenarbeit."

O "Die beste Männerfreundschaft nimmt Schaden, wenn die Frauen sich nicht mögen."

O "Die Menschen suchen auch in der heutigen Zeit nach Wärme und Geborgenheit."

O "Je einsamer die Menschen sind, desto länger sitzen sie vor dem Fernseher."

Im Kontext der Neoliberalismuskritik fungiert dieser stumpfsinnige Mix aus Alltagspsychologie und Kulturkritik als Angebot zur Vergewisserung, seine unausgesprochene Devise lautet: Was jeder in Deutschland unterschreiben kann. Im Medium gemeinsamer Lebenserfahrung signalisiert Lafontaine dem Kollektivbewusstsein seine Glaubwürdigkeit; die im Jargon der schlichten Wahrheit vorgetragene Sehnsucht nach stabilen Verhältnissen spricht intuitiv und umstandslos all das an, was die einfachen Menschen hierzulande mit Entfremdung bedroht.

Im Rückblick auf die Auseinandersetzung um die doppelte Staatsbürgerschaft schreibt Lafontaine: "In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und ständiger sozialer Kürzungen ist die Akzeptanz ausländischer Mitbürgerinnen und Mitbürger ohnehin geringer (...). Diejenigen, die keine Arbeit finden, sehen in den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Konkurrenten, die ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen, und das noch zu sehr niedrigen Löhnen. Das unverantwortliche Lohndumping vieler Firmen schürt diese Stimmung zusätzlich. Ich habe immer dafür geworben, dass man selbst einmal versuchen sollte nachzuempfinden, was es heißt, wenn ein deutscher Bauarbeiter von einem ausländischen Kollegen verdrängt wird, der für ein Drittel seines Lohnes oder weniger arbeitet."

Solch demonstrative Treuherzigkeit muss natürlich das Verständnis für deutsche Bauarbeiter, die ihrer ausländischen Konkurrenz - wie bereits geschehen - mit der Dachlatte zu Leibe rücken, nicht mehr eigens ausformulieren, und dem Vorwurf des ordinären Populismus will sie durch die eilige Behauptung zuvorkommen, schon sehr früh gewarnt zu haben.

Die gleiche Art der Zustimmung von unten ruft Lafontaine im Rückblick auf die 1993 vollzogene Demontage des Asylrechts ab, "eine Grundlage unseres Wahlerfolgs im Jahre 1998": "Eine zu starke Zuwanderung macht eine Integration der ausländischen Mitbürger und Mitbürgerinnen fast unmöglich." Er habe darauf hingewiesen, dass von deutscher Seite "die Hauptbetroffenen der Zuwanderung die sozial Schwächeren sind. Reiche haben unter der Zuwanderung nicht zu leiden."

Lafontaines Anbiederung an das rassistische Ressentiment ist der Kritik von Links völlig entgangen. Zum einen, weil sich Lafontaine in der nachdrücklichen Forderung nach internationaler Kooperation in der Finanzpolitik ("Weltinnenpolitik") betont kosmopolitisch gibt; zum anderen, weil in den sozialreformerischen Milieus - vor allem, soweit sie gewerkschaftlich orientiert sind - nichts zählt als der Kampf um Arbeit. Rassistisches Sprechen und Handeln geht hier als fehlgeleiteter Protest der von Deklassierung Bedrohten durch, nicht schön vielleicht, aber Nebensache - und schuld sind die Unternehmer.

Die Vulgarisierung linker Kritik treibt Lafontaine, ebenfalls unbeanstandet, in seinen Betrachtungen über die Lohnarbeit in eine neue Dimension: "Das Normalarbeitsverhältnis, das dem Arbeitenden eine soziale Sicherung und einen Zeitrahmen gibt, in dem er sein Leben planen kann, ist eine wichtige kulturelle Errungenschaft der modernen Gesellschaft." Der Soziologe Richard Sennett habe betont, "dass Normalarbeitsverhältnisse der Charakterbildung dienen. Sie vermitteln Werte wie Treue und gegenseitige Verpflichtung. Umgekehrt führen flexible Arbeitsverhältnisse (...) zur Zerstörung des Charakters und zum Verlust der Selbstachtung." Stringent enden die Ausführungen über das "identitätsstiftende Normalarbeitsverhältnis" in einem Bekenntnis, dessen Wortlaut die Erinnnerung an ein altes deutsches Ethos geradezu aufzwingt: "Um frei zu sein, braucht man eine feste Arbeit."

Die Feier des Authentischen greift wie im Selbstlauf auf das Feld der Kulturkritik aus. Unter Berufung auf Walter Benjamin beklagt Lafontaine das allseitige Verschwinden des Echten und die Vorherrschaft des Reproduzierten: "Es passt zu dieser Symbolik, dass eine künstliche Figur wie Michael Jackson zum Idol junger Menschen aufsteigen konnte." Auch sei die Bezeichnung "Mediengesellschaft" für unser "Zeitalter" gut gewählt, "sind doch die Medien, der Name sagt es, die Mittel der Wiedergabe, der Reproduktion".

Seinen Charme bezieht das Buch insgesamt aus einer als Kapitalismuskritik missverstandenen und unter sozialdemokratischen Linken traditionell beliebten Aktionsorientierung. Lafontaine diskutiert eine Reihe konkreter Regulierungsmaßnahmen, die die Finanz- und Geldpolitik zu Gunsten einer Beschäftigungslogik modifizieren sollen. Das (Finanz-)Kapital taucht in dieser Optik selbstredend nicht als gesellschaftliches Verhältnis auf, sondern ausschließlich in der Personifizierung von "Managern" und "Aktionären", die sich irgendwann der demokratischen Kontrolle entzogen haben und die durch politische Tatkraft möglichst rasch in ihre Schranken verwiesen werden müssen. Lafontaines Motto: Es geht, man muss nur wollen. Zur Abwehr der eigennützigen Ansprüche der Geldagenten sei es im gleichen Zug nötig, "dem Gemeinsinn auch im wirtschaftlichen Leben wieder größere Geltung zu verschaffen".

Unterm Strich: Anbiederung bei den Rassisten aus der Unterklasse, Kult der Lohnabhängigkeit, Bedenken gegen das Unechte in der Kultur und hemdsärmelige Kritik an der Moral der Finanzmagnaten - Kapitalismuskritik von echtem Schrot und Korn, die passenderweise mit dem Gestus der Rebellion vorgebracht wird: "Den Aufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen, das war der Kern meiner Arbeit als Parteivorsitzender der SPD." Die Leute kaufen das Buch wie verrückt, der Verlag bereitet gerade die siebte Auflage vor. "Der Sozialdemokratismus", schreibt Lafontaine, "ist dem Volk einfach nicht auszutreiben."

Oskar Lafontaine: Das Herz schlägt links. Econ, München 1999, 316 S., DM 39,90