Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Erich Kuby ist Publizist und lebt in Venedig

Auf Rückfrage erfuhr ich, es sei der 22. Juni 1974 gewesen. Aus meinen in Stichworten geführten Tagebüchern suchte ich mir das Jahr 1974 heraus und stellte fest, damals hatte ich mich ferienhalber in unserem Haus auf der jugoslawischen, inzwischen kroatischen Insel Losinj aufgehalten. Am 21. war ein Polizist den Ziegenpfad zu mir heruntergekommen, um auszurichten, ich solle mich anderntags zu einem Interview mit Tito einfinden, auf einem seiner Landsitze in der Nähe von Beograd. Die Fähre zum Festland hatte ihren Betrieb bereits eingestellt, aber das Zauberwort Tito veranlaßte den Kapitän, die Motoren für diesen deutschen Journalisten noch einmal anzuwerfen. Es fand sich auch ein Taxifahrer, der die rund 600 Kilometer bis Beograd in der Nacht bei Nebel und Regen erstaunlicherweise in rund sechs Stunden hinter sich brachte. Kurz, ich war tatsächlich pünktlich bei Tito. Er hatte sein Whiskyglas vor sich und benutzte leider nicht den Dolmetscher, sondern sein bescheidenes Deutsch, das er sich als Fabrikarbeiter in Wien angeeignet hatte. Unter anderem fragte ich ihn, wann er bemerkt habe, daß er Tito sei, und er sagte: "Ach, das hat sich so gemacht". Ich konnte dem Problem nicht auf den Grund gehen, weil ich es für unstatthaft hielt, ihn zu bitten, doch den Dolmetscher zu verwenden. Über die WM im fernen Hamburg fiel kein Wort, jedoch redeten wir lange über Willy Brandt. Am späten Abend dieses 22. Juni war ich wieder im Inselhaus, in dem außer einem Flügel auch ein Cembalo stand. Nichts ist wahrscheinlicher, als daß ich darauf das aus lauter Sechzehnteln bestehende c-Moll-Präludium übte (Bach, "Wohltemperiertes Klavier"), während Jürgen Sparwasser das bewußte Tor schoß. Gewiß ist nicht einmal mir entgangen, daß die um die WM kämpfenden Ballstößer heute allesamt Millionäre sind - was Sparwasser nicht gewesen ist -, und daß das Endspiel am 12. Juli 1998 von einer Milliarde TV-Konsumenten verfolgt wurde. Ich gehörte nicht dazu. Ich bin kein Feind des Fußballspiels, aber es interessiert mich nicht. Bei unserem 15jährigen Sohn ist das anders. Er befand sich während der WM bei Freunden in Deutschland und saß sicher bei wichtigen Spielen vor dem Fernseher. In Venedig aufgewachsen, hat er eine mailändische Lieblingsmannschaft, von der, wie ich annehme, das Endspiel nicht mitbestimmt wurde. Churchill, befragt, wie er so munter so alt geworden sei, hatte geantwortet: "No Sports." Das ist auch mein Rezept; ich bin 1910 geboren.