Szenekenner beobachten das Wiederaufleben des Neonazismus im Stil der neunziger Jahre

Zurück in die Neunziger

Experten warnen vor einer Zunahme rechtsextremer Einstellungen unter Jugendlichen. Sie beobachten eine Rückkehr der klassischen Neonazi-Szene.

Die AfD und mit ihr rechtsextreme Protestbewegungen bestimmten in den vergangenen zehn Jahren die Debatte über die extreme Rechte. Die klassische Neonazi-Szene, die vor allem die »Baseballschlägerjahre« in den neunziger und frühen nuller Jahren geprägt hatte, verschwand zusehends aus dem Fokus der Öffentlichkeit. Die NPD (heute: Die Heimat) und die Freien Kameradschaften, die diese Strömung in den frühen nuller Jahren durchaus mit politischem Erfolg organisatorisch repräsentiert hatten, zerfielen in den zehner Jahren vor allem an inneren Widersprüchen.

Gegen die Konkurrenz wesentlich breitenwirksamerer Bewegungen wie die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (Pegida) und die bei Wahlen in Kommunen, Ländern und im Bund viel erfolgreichere AfD konnte sich im ersten Fall das Kameradschaftsmilieu und im zweiten Fall die NPD ab Mitte der zehner Jahre nicht mehr behaupten.

In den vergangenen drei bis vier Jahren ist zu beobachten, dass eine neue Szene junger Rechtsextremer entsteht, die eine enge ideologische Orientierung am historischen Nationalsozialismus mit jugendbewegt-subkulturellen Aktionsformen und einer ostentativen Militanz verbinden.

Doch in den vergangenen drei bis vier Jahren ist zu beobachten, dass eine neue Szene junger Rechtsextremer entsteht, die eine enge ideologische Orientierung am historischen Nationalsozialismus mit jugendbewegt-subkulturellen Aktionsformen und einer ostentativen Militanz verbinden. Lehrer:innen berichten wieder von vermehrten rechtsextremen Äußerungen in der Schule. Anfang April warnten die Landes­schüle­r:in­nenvertretungen der ostdeutschen Bundesländer, dass sich Rechtsextremismus unter Jugendlichen rasant verbreite: »Tische und Wände, welche mit Hakenkreuzen versehen sind, Klassen- oder Jahrgangsgruppen gefüllt mit verfassungsfeindlichen Symbolen oder auch offen gezeigte Hitlergrüße im Schulumfeld sind an manchen Stellen keine Randphänomene mehr.«

Immer häufiger registrieren Beobach­te­r:innen der rechten Szene vor allem, aber nicht nur in Ostdeutschland jugendliche Neonazis, die sich in ihrem Auftreten an den kulturellen Codes der Rechtsextremen ihrer Elterngeneration orientieren, als Teil­nehme­r:in­nen an Veranstaltungen oder als Beteiligte an rassistischen Angriffen oder Attacken auf politische Geg­ner:in­nen. »Elterngeneration« ist dabei durchaus im Wortsinne zu verstehen. So bildete sich 2020 im am östlichen Berliner Stadtrand gelegenen Brandenburger Landkreis Märkisch-Oderland (MOL) eine Gruppierung jugendlicher Neonazis unter dem Namen Division MOL. Kennern der lokalen Szene fiel schnell auf, dass bereits die Eltern der wichtigsten Akteure der Gruppe als aktive Rechtsextreme in Erscheinung getreten waren.

Gewalt noch nicht auf dem Niveau der neunziger Jahre

Die Gruppe fiel mit gewalttätigen Angriffen, vor allem aber mit dem aggressiven Bemühen um Präsenz im öffentlichen Raum auf, zum Beispiel durch Sticker und Graffiti. Offensichtlich anknüpfend an Kontakte einiger Eltern näherte sich die Gruppe schnell der 2013 von Neonazis aus NPD und Kameradschaftsmilieu gegründeten neonationalsozialistischen Kleinstpartei »Der III. Weg« an, die in Berlin ­immer besser Fuß fasst. Maßgebliche Mitglieder der Division MOL verlagerten ihre Aktivitäten ab 2021 nach Berlin. Im Frühjahr 2022 schließlich gab die Nationalrevolutionäre Jugend (NRJ), die Jugendorganisation von »Der III. Weg«, auf ihrer Webseite bekannt, dass sie ihren Stützpunkt Berlin/Brandenburg habe »weiter festigen und ausbauen« können. Die Division MOL war in der NRJ aufgegangen.

Sowohl die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR) wie auch die »Berliner Register«, die rechtsextreme Vorfälle in den Bezirken der Hauptstadt dokumentieren, stellten fest, dass in den vergangenen Monaten linke und linksalternative Jugendclubs im Osten der Stadt die Präsenz der NRJ zu spüren bekamen. Die MBR berichtet der Jungle World: »Das Spektrum der Aktivitäten reicht dort vom Beschmieren und Bekleben der Fassaden mit rechtsextremen Slogans oder Aufklebern über Sachbeschädigungen an den Einrichtungen und Einschüchterungen der Besucher:innen oder Mit­­arbeiter:innen bis hin zu Veranstaltungsstörungen und Angriffen.«

Bisher erreicht die Gewalt nicht das Niveau der neunziger oder frühen nuller Jahre, als Neonazis häufig in Gruppen linke Veranstaltungsorte überfielen und alle dort Anwesenden verprügelten, oft unter Einsatz von Schlagwaffen. Stattdessen versuchen die jungen Rechtsextremen von heute zumeist, sich das Bedrohungsgefühl zunutze zu machen, das sich vor dem Hintergrund dieser Geschichte bei Besucher:innen und Mitarbeiter:innen von Clubs einstellt, wenn Gruppen junger Rechtsextremer offen provokant und konfrontativ auftreten.

In Parteikleidung vor dem Schulhof

Die Aktivisten der NRJ sind jedoch nicht nur damit beschäftigt, linke Jugendliche zu bedrohen, »Der III. Weg« insgesamt bemüht sich auch um Rekrutierung. Nach Einschätzung der MBR sei die Neonazi-Kleinstpartei dabei, »Strukturen aufzubauen und gezielt Jugendliche anzusprechen, unter anderem durch Verteilaktionen vor Schulen«. Im Oktober sei dafür »eine sogenannte Schulhofoffensive« ausgerufen worden. Eine Sprecherin der für den Bezirk Lichtenberg zuständigen Registerstelle der Berliner Register sagte dazu im Gespräch mit der Jungle World: »Sie stehen dann in der Parteikleidung vor den Schulhöfen und verteilen QR-Codes und Visitenkarten, die auf das Online-Angebot der Partei hinweisen.«

»Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung. Es besteht ein ernsthaftes Risiko, dass neonazistische Militanz wieder deutlich zunimmt.« Eine Sprecherin des Lichtenberger Registers

Damit knüpfe die NRJ an rechtsextreme Traditionen wie die Verteilung ­sogenannter »Schulhof-CDs« mit der Musik rechtsextremer Bands durch NPD und Kameradschaften in den frühen nuller Jahren an. »Die Verteilung an Schulen ist eine wiederentdeckte Aktionsform des aktionsorientierten Spektrums. Das war jetzt einfach in den letzten zehn bis 15 Jahren kein Thema mehr«, so die Sprecherin des Lichtenberger Registers. »›Der III. Weg‹ und die NRJ füllen eine Lücke, die nach dem Niedergang der NPD entstanden ist.« Sie seien derzeit die einzigen rechtsextremen Organisationen, die ein spezielles Angebot für Jugendliche haben. Und das gehe weit über Propagandaaktionen hinaus und umfasse Freizeitveranstaltungen, Wanderungen, Schulungen und Kampfsporttraining.

Gerade Kampfsporttraining sprechen dem Lichtenberger Register zufolge männliche Jugendliche an, da sie an Elemente der Hooligan- und Ultra-Subkulturen anknüpfen, aber auch an den durch die sozialen Medien verschärften Körperkult unter Jugendlichen. Dazu komme ein für faschistische Jugendbewegungen typisches Erleben von Macht und Selbstwirksamkeit. »Wenn die in einer Gruppe unterwegs sind und erfahren, dass sich niemand traut, sich ihnen entgegenzustellen, dann sind die wie im Rausch.«

Risiko, dass neonazistische Militanz wieder zunimmt

Die MBR stellt fest: »Dem ›III. Weg‹ ist es in Berlin – im Gegensatz zu anderen Akteuren aus dem klassisch-neonazistischen Rechtsextremismus – erstmals seit Jahren wieder gelungen, überhaupt Nachwuchs für die Szene zu rekrutieren.« Das Lichtenberger Register erfüllt das mit Besorgnis: »Wir stehen erst am Anfang einer Entwicklung. Es besteht ein ernsthaftes Risiko, dass neonazistische Militanz wieder deutlich zunimmt.«

Der Partei »Der III. Weg« komme dabei eine besondere Bedeutung zu. »Das besondere am ›III. Weg‹ ist diese Mischung aus alten Nazi-Kadern und aktionsorientierten Jugendlichen. Diese Infrastruktur, zum Beispiel die Kampf­sporttrainings, und das geschlossene Weltbild haben nichtorganisierte rechte Jugendliche nicht.« Doch anders als in den neunziger Jahren registrieren die Mitarbeiter:innen des Registers »ein großes öffentliches Interesse an dem Thema, es treibt die Leute um, viele sind ernsthaft besorgt«.

Mit einer Handreichung für Lehre­r:in­nen und Pädagog:innen zum Umgang mit den Aktionen von »Der III. Weg« und NRJ versucht das Lichtenberger Register, dieses Informations­bedürfnis zu stillen. Auch die MBR bietet Schulen und anderen Einrichtungen Beratung zum Umgang mit Neonazis an. Die Erfahrung zeige, dass man der rechtsextremen Dominanz im öffentlichen Raum am besten gemeinsam begegne: »Sinnvoll ist immer, sich mit anderen zusammenzuschließen, um gemeinsam vorzugehen.«