Uwe Wittstock rekonstruiert in »Marseille 1940« die Flucht der Exilanten vor den Nazis

Le désastre

Der Schriftsteller Uwe Wittstock hat mit »Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur« ein phantastisches Buch vorgelegt, das das Exil auf berückende Weise gegenwärtig macht.

Es liegt eine gewisse Ironie in dem Umstand, dass die Rettung der deutschsprachigen Schriftstellerprominenz ausgerechnet an einem Foto gehangen haben soll. Ein Schnappschuss, der Lion Feuchtwanger hinter Stacheldraht im französischen Internierungslager Les Milles zeigt, erreichte 1940 die US-amerikanische Präsidentengattin Eleanor Roosevelt. Davon erschüttert, setzte sie sich dafür ein, dass die vor den Nazis nach Marseille und Umgebung geflohenen Künstler in die USA ausreisen konnten.

Uwe Wittstock erzählt in seiner historischen Collage vom nervösen Alltag im südfranzösischen Exil, den unter tödlichen Gefahren unternommenen Schleusungen und vom unerschrockenen Einsatz der oft im Halbweltmilieu agierenden Retter.

Neben Feuchtwanger waren das unter anderem Heinrich Mann, Hannah Arendt, Walter Benjamin und Franz Werfel; nur die Kommunistin Anna Seghers, befand Roosevelt, konnte sehen, wo sie blieb. Bis zur Flucht, die vielen, aber nicht allen gelang, versteckten sich die Künstler in Pensionen, Privatwohnungen oder Villen mit Meerblick, immer in Angst vor den Spitzeln der Gestapo. Die Franzosen wiederum misstrauten den deutschen und österreichischen Flüchtlingen und steckten sie zeitweilig in Lager.

Uwe Wittstock erzählt in seiner historischen Collage »Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur« von dem Foto und seiner Wirkung, aber vor allem vom nervösen Alltag im südfranzösischen Exil, den unter tödlichen Gefahren unternommenen Schleusungen und vom unerschrockenen Einsatz der oft im Halbweltmilieu agierenden Retter, allen voran der US-Amerikaner Varian Fry, Kopf der wichtigsten Fluchthilfeorganisation.

Der düstere Glanz einer »Casablanca«-gleichen Romanze

Aus kurzen Miniaturen, die sich eng an den Wortlaut der Briefe, Tagebücher und Autobiographien der Autoren halten, entsteht ein lebhaftes Bild von der Kolonie der bedrohten Künstler.

Mit der unwahrscheinlichen Verbindung zwischen der vermögenden US-amerikanischen Philanthropin Mary Jayne Gold, die mit großzügigen Spenden die Ausreise vieler Flüchtlinge ermöglichte, und dem französischen Abenteurer und Fremdenlegionär Raymond »Killer« Couraud fällt der düstere Glanz einer »Casablanca«-gleichen Romanze auf die Darstellung. Ein phantastisches Buch, das das Exil auf berückende Weise gegenwärtig macht!


Buchcover

Uwe Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. C. H. Beck, München 2024, 351 Seiten, 26 Euro