Gad Lior, israelischer Journalist, im Gespräch über die jüngst von der Hamas ermordete Geisel Hersh Goldberg-Polin

»Hapoel Jerusalem ist in Trauer«

Der israelische Journalist Gad Lior (»Yediot Achronot«) ist großer Fan des Fußballclubs Hapoel Jerusalem. Die »Jungle World« sprach mit ihm über die von der Hamas am 7. Oktober entführte und jüngst ermordete Geisel Hersh Goldberg-Polin, der in der Fanszene von Hapoel Jerusalem aktiv war und auch Werder Bremen anhing.

Wie sind Sie zu Hapoel Jerusalem gekommen? Der Verein gehört ja zur Arbeitersportbewegung. 
Im Alter von sechs Jahren bat ich meinen Vater, mich zu einem Fußballspiel mitzunehmen. Ich hatte von Kindern in meiner Schulklasse gehört, dass es ein Team gibt, das jeden respektiert – Hapoel Jerusalem – und in dem sowohl Juden als auch Araber, sowohl Religiöse als auch ­Säkulare, spielen. Im Vergleich zum bekannteren und größeren Beitar ­Jerusalem, das genau das Gegenteil von Hapoel ist.

»Hersh war ein glücklicher und gutherziger junger Mann, gerade mal 24 Jahre alt, der in seinem Leben niemandem Schaden zugefügt hat. Sein Leben endete in einem Tunnel 20 Meter unterhalb von Gaza.«

Mein Vater und ich gingen dann also zu einem Spiel von Hapoel, das die Mannschaft prompt mit 2:0 gegen Maccabi Jaffa verlor. Und als mein Vater mich mit den Worten tröstete: »Es ist okay, im nächsten Spiel wird die Mannschaft gewinnen«, antwortete ich ihm: »Jedes Spiel musst du ­gewinnen.« Mein Vater zitierte mich damit im Laufe der Jahre viele, viele Male.

Gedenken für Hersh Goldberg-Polin am Bremer Weserstadion

Gedenken für Hersh Goldberg-Polin am Bremer Weserstadion

Bild:
Thomas Hafke

Wie haben Sie im Jahr 2007 die sogenannte Fan-Revolution bei Hapoel Jerusalem erlebt? Was ereignete sich damals – und folgten Sie den Fans, die mit Hapoel Katamon einen neuen Verein gründeten?
Seitdem sind 17 Jahre vergangen. ­Unsere Mannschaft, Hapoel Jerusalem, hatte lange in der ersten Liga gespielt und auch den Pokal gewonnen. Irgendwann wurde der Verein jedoch von Geschäftsleuten übernommen, die hauptsächlich Geld verdienen wollten. Sie verkauften die besten Spieler, unter anderem die­jenigen, die auch für die israelische Nationalmannschaft aufliefen, und der Verein stieg in die dritte Liga ab.
Also versammelten sich die Fans und beschlossen, einen neuen Club zu gründen und ihn für die letzte Liga, die fünfte, anzumelden. Hapoel Katamon schaffte es bis in die erste Liga. Seit vier Jahren spielen wir in der israelischen Premier League wieder als Hapoel Jerusalem.

Wie war es, als die Fans wieder zurückgekehrt sind? Was war ­eigentlich der Grund, Hapoel Katamon wieder aufzugeben?
Nach der Gründung des Fanvereins Hapoel Katamon bestand auch der alte Club Hapoel Jerusalem weiter. Er stieg allerdings bis in die vierte Liga ab und am Ende erkannte man, dass die Existenz des Clubs keinen Sinn mehr hatte. Aber auch Hapoel Katamon bemühte sich, dieser Situation ein Ende zu setzen. Nach einer Abstimmung beschlossen die meisten Fans, den Namen ihres Vereins zu Hapoel Jerusalem zu ändern, aber auf den Emblemen und Trikots der Mannschaft erscheint das Wort Katamon nach wie vor. Und die Frauenmannschaft, die vor einem Jahr in die erste Liga aufgestiegen ist, nennt sich weiterhin Hapoel Katamon Jerusalem.

Trauer um Hersh Goldberg-Polin vor dem Bremer Weserstadion

Trauer um Hersh Goldberg-Polin vor dem Bremer Weserstadion

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Thomas Hafke

Was heißt Katamon eigentlich?
Das ist der Name des Viertels, in dem vor etwa 100 Jahren der erste Platz von Hapoel Jerusalem angelegt wurde. Heute spielt das Team im modernen Teddy-Stadion im Süden Jerusalems. Die Tribünen bieten Platz für 32.000 Zuschauer und ist neben den Stadien in Tel Aviv und Haifa eines der drei größten Fußballstadien in Israel.

Und dann kam der 7. Oktober. Hersh Goldberg-Polin, ein Fan von Hapoel Jerusalem und Werder Bremen, wurde von der Hamas entführt. Hapoel hat sich immer stark für das friedliche Zusammenleben zwischen Israelis und ­Palästinensern eingesetzt … 
Der 23jährige Hersh Goldberg-Polin wurde in den Vereinigten Staaten ­geboren und zog als Siebenjähriger mit seiner jüdischen Familie nach ­Israel. Schon in jungen Jahren begann er, sich für die Zusammenarbeit ­zwischen jungen Israelis und Palästinensern einzusetzen, und half, gemeinsame Fußballspiele für israelische und palästinensische Kinder zu organisieren. Er war sehr stolz dar­auf. Wie zynisch ist es, dass Hersh im Zuge der Morde, Vergewaltigungen und brutalen Entführungen am 7. Oktober von den Terroristen der Hamas mit unvorstellbarer Grausamkeit gekidnappt wurde! In den Videos, die von den Hamas-Terroristen selbst gefilmt wurden, ist zu sehen, wie sie den schwer verletzten Hersh auf die Ladefläche eines Pickup warfen und ihn nach Gaza brachten. Vor ein paar Monaten veröffentlichten die Hamas-Entführer ein kurzes Video, in dem Hersh lebend, allerdings mit amputierter Hand, zu sehen war. Er flehte, einen Deal zu machen, der den Krieg beenden und ihn und die anderen Geiseln nach Hause bringen solle.

Solidarität unter Fans. Am 4. Mai zeigten Anhänger des SV Werder Bremen im Bremer Weserstadion ein Banner mit der Aufschrift »Stay strong Hersh«

Solidarität unter Fans. Am 4. Mai zeigten Anhänger des SV Werder Bremen im Bremer Weserstadion ein Banner mit der Aufschrift »Stay strong Hersh«

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picture alliance / nordphoto GmbH / nordphoto GmbH / Kokenge

Hat man in Israel die Kampagne von Werder und den Bremer Ul­tras für die Freilassung von Hersh und Inbar Heyman sowie der anderen Geiseln wahrgenommen?
Die große Unterstützung für die Freilassung der Entführten durch die Fans von Werder Bremen wird in Israel, und erst recht bei den Fans von Hapoel Jerusalem, mit großer Begeisterung aufgenommen. Über die Choreographien in der Ostkurve des Weserstadions wurde in israelischen Medien ständig berichtet.
Die Wertschätzung für die Aktivitäten in Bremen ist deshalb umso ­größer, weil es eine ganze Reihe von Ländern auf der Welt gibt, die gegen Israel wirken. Selbst die befreundeten Länder haben vergessen, dass es in Gaza 107 Entführte gab, darunter 85 Jahre alte Menschen, 19jährige junge Frauen und selbst Babys.

Im Dezember 2023 wurde bekannt, dass Inbar Heyman in der Geiselhaft ermordet worden war. Und seit einigen Tagen steht fest, dass auch Hersh nicht mehr lebt.
Hapoel Jerusalem ist in Trauer. Wir erfuhren während unseres ersten Ligaspiels der Saison, dass die Hamas unseren Hersh Goldberg-Polin ermordet hat. Das Ergebnis war für uns nicht mehr wichtig. Hersh war ein glücklicher und gutherziger junger Mann, gerade mal 24 Jahre alt, der in seinem Leben niemandem Schaden zugefügt hat. Sein Leben endete in einem Tunnel 20 Meter unterhalb von Gaza.

»Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Die Rache für den Mord an einem Kind ist noch nicht erfunden.«

Es gibt ein Sprichwort, das besagt: Die Rache für den Mord an einem Kind ist noch nicht erfunden. Die Antwort auf seinen Tod wird die Beseitigung aller sein, die ihm und den anderen Leid zugefügt haben, und derjenigen, die ihnen befohlen haben, Menschen zu ermorden.

Wie denken Sie heute über Hapoel Jerusalem und die Linke? Hat sich da etwas seit dem 7. Oktober bei Ihnen grundlegend geändert?
Ich setze mich seit Jahren für den Frieden ein und engagiere mich in diesem Bereich. Aber es ist auch klar, dass die Ereignisse vom 7. Oktober und der Raketenbeschuss aus dem Iran, dem Libanon, Syrien und dem Jemen auf Israel bedeuten: Israel befindet sich in einem existentiellen Krieg. In der jetzigen Situation trifft das zu, was Israels sagenumwobener Außenminister Abba Eban einst sagte: »Die Palästinenser haben nie eine Gelegenheit verpasst, eine Gelegenheit zu verpassen.« Wenn sie im Oktober das Ende der Terroranschläge gegen Israel verkündet hätten, hätten sie jetzt einen Staat.
Ich werde mich weiterhin für Frieden in der Region einsetzen, aber nicht mit Terrororganisationen. Die Vereinigten Staaten und Europa schlossen auch keinen Frieden mit al-Qaida, bin Laden und dem IS, sondern bekämpften sie, bis sie geschwächt und ausgeschaltet wurden. Vielleicht gibt es in ein paar Jahren eine Chance für eine friedliche Regelung im Nahen Osten. Im Moment scheint es leider weiter weg zu sein als je zuvor.

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Gad Lior mit einem Fanschal von Werder Bremen

Gad Lior mit einem Fanschal von Werder Bremen

Bild:
Thomas Hafke

Der Journalist Gad Lior wurde vor 71 Jahren in Jerusalem geboren. Seinen Eltern Artur und Liesel war Ende 1939 die Flucht aus Berlin ins damalige Palästina gelungen, alle anderen Familienmitglieder wurden von den Nazis ermordet. Er studierte Wirtschafts- und Politikwissenschaften und ist, wie er selbst sagt, »der älteste Redakteur der größten israelischen Zeitung«, nämlich von »Yediot Achronot«.