Russland ruft mit immer ­höheren Zahlungen Soldaten an die Front

Der Sold lockt

Den russischen Streitkräften fehlt es an kampffähigem Personal. Der Kreml ist bemüht, neue Vorgehensweisen für die Rekrutierung zu finden, darunter auch Zwangsmaßnahmen.

Kommt die volle Mobilmachung oder nicht? Der Einmarsch ukrainischer Truppen in die russische Region Kursk hat zum wiederholten Mal Debatten über diese Frage entfacht. Nach jedem militärischen Rückschlag stellt sie sich neu, die offizielle Antwort aus dem Kreml fällt jedoch bislang immer gleichlautend aus: Nein, das sei kein Thema. Am 12. August, eine knappe Woche nachdem ukrainische Truppen begonnen hatten, russische Gebiete einzunehmen, ließ Präsident Wladimir Putin verlauten, die Zahl angehender Soldaten, die freiwillig Verträge mit dem Verteidigungsministerium abschließen, sei in den vergangenen Tagen gestiegen.

Gravierende Defizite der russischen Armee lassen sich nicht mehr verhehlen, da ukrainische Einheiten zunächst fast widerstandslos über die kaum geschützte Grenze vorrücken konnten. Ihnen gelang ein Überraschungsangriff, der dem Gegner erheblich zusetzt. Putin und sein Generalstab hatten offenbar nicht damit gerechnet, dass die Ukrai­ne sich erdreisten könnte, den Krieg auf russisches Territorium auszuweiten.

Wer einen Vertrag für einen Fronteinsatz abschließt, erhält ab sofort eine Einmalzahlung, die bis zu 4.200 Euro betragen kann.

Mit Verweis auf dem Kreml und dem Verteidigungsministerium nahestehende anonyme Quellen berichtete die Nachrichtenagentur Bloomberg, die kritische Situation im Kursker Gebiet lasse eine volle Mobilmachung noch in diesem Jahr wahrscheinlicher werden. Denn vor allem fehle es den russischen Streitkräften an kampffähigem Personal. Ein Gesprächspartner von Bloomberg wies darauf hin, dass die Regionalbehörden weit hinter den an sie gestellten Erwartungen zurückblieben und oft nicht einmal ein Drittel der aus Moskau geforderten Quoten an Neuzugängen der Armee erfüllten.

Die im September 2022 ausgerufene Teilmobilmachung wurde bis heute nicht beendet, nur die Vorgehensweise bei der Rekrutierung hat sich verändert. Seither werden keine wahllos gestreuten Einberufungsbefehle mehr zugestellt, die in der Bevölkerung für reichlich Unmut und auch für zu viel Aufsehen gesorgt hatten. Weil dadurch die Vorstellung vom in Russland herrschenden Normalzustand ins Wanken geriet, brauchte es Maßnahmen, die still und leise umsetzbar sind, oder materielle Anreize.

Druck enorm erhöht

Also werden Reservisten mobilisiert und staatliche Unternehmen und Dienstleister erhalten Vorgaben, Mitarbeiter zu entsenden. Auf reguläre Wehrdienstleistende hat sich der Druck ebenfalls enorm erhöht, sich als Berufssoldaten zu verpflichten. Es sind etliche Fälle bekannt, wo Wehrdienstleistenden die Unterschrift unter Vorspiegelung falscher Tatsachen abgerungen wurde. Doch freiwillige Rekruten zieht nur eines an – Geld.

Im ersten Halbjahr 2024 hätten sich 190.000 Freiwillige für einen Fronteinsatz verpflichtet, so das russische Verteidigungsministerium. Rund 1.000 von ihnen würden täglich ins Kampfgebiet entsandt. Zum Vergleich: Der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zufolge betrug die Gesamtzahl der im Februar 2022 an der Vollinvasion der Ukraine beteiligten russischen Soldaten 190.000. Im Rahmen der Teilmobilmachung wurden demnach bis Ende Oktober 2022 weitere rund 300.000 Männer schlecht ausgerüstet und ausgebildet an die Front geschickt – sofern sie nicht gefallen sind, verwundet oder gefangen wurden, sind sie noch immer im Kriegseinsatz. Für das Jahr 2023 nannte das Verteidigungsministerium die Zahl von 540.000 Neuzugängen. Allein schon daran lässt sich erkennen, dass im laufenden Jahr weniger Vertragsabschlüsse zustande kommen werden als zuvor, wenn das derzeitige Tempo beibehalten wird.

Daraus zog Putin Ende Juli die Konsequenz, die bisher geltenden Vergütungssätze anzuheben. Seit der Vollinvasion ist der Monatssold von Vertragssoldaten SWP zufolge von umgerechnet maximal 330 Euro auf mindestens 2.110 Euro gestiegen – der monatliche Durchschnittsverdienst lag im Juni in Russland bei 800 Euro. Bei Vertragsabschluss für einen Fronteinsatz ist ab sofort eine Einmalzahlung aus der Kasse des Zentralstaats vorgesehen, die bis zu 4.200 Euro betragen kann. Putin empfahl zudem den regionalen Verwaltungen, aus ihrem eigenen Haushalt noch mal so viel draufzuzahlen. Dass diese Taktik den Rekrutierungsämtern neue Interessenten beschert, ist eine Tatsache.

Metropolregion Moskau hat ihr Potential noch nicht ausgeschöpft

Doch längst nicht alle Regionen verfügen über die notwendigen Mittel, immer mehr Kämpfer bereitzustellen, oder sie scheitern aus anderen Gründen daran. Berechnungen des Online-Rechercheportals Istories und der Investigativ-NGO Conflict Intelligence Team (CIT) zeigen, dass in Regionen mit niedrigem finanziellen Anreiz die Anzahl freiwilliger Vertragsabschlüsse stellenweise sogar unter der anderweitig rekrutierter Soldaten liegt, wie beispielsweise in Kabardino-Balkarien an der Grenze zu Georgien. Und wenn Regionen wie das arme Burjatien an der Grenze zur Mongolei bereits im Rahmen der Teilmobilmachung überdurchschnittlich viel Rekruten an die Front geschickt haben (über vier Prozent der Männer im wehrfähigen Alter bis 50 Jahre), lassen sich kaum mehr neue Freiwillige anlocken.

Die Metropolregion Moskau hat ihr Potential hingegen noch nicht ausgeschöpft. Aus der russischen Hauptstadt gingen innerhalb der vergangenen zwölf Monate rund 26.000 Männer an die Front. Allerdings sanken auch hier die Zahlen nach einer kurzen Hochphase im September 2023. Bürgermeister Sergej Sobjanin lobte Ende Juli neben bisherigen Sonderzahlungen noch eine Einmalzahlung in Höhe von knapp 20.000 Euro aus, seither kommt es täglich zu über 100 Vertragsabschlüssen anstelle von im Schnitt 36 im Juni.

Doch nur 20 Prozent dieser sogenannten kontraktniki haben ihren festen Wohnsitz in Moskau und Umgebung und nur rund zehn Prozent sind nicht im Besitz der russischen Staatsangehörigkeit; der Rest hat sich der Boni wegen aus anderen Landesteilen nach Moskau aufgemacht. Das unabhängige Nachrichtenportal Wjorstka (auch »Verstka« transkribiert) zitiert einen Informanten aus der Verwaltung, dessen Einschätzung nach die überwiegende Mehrheit derer, die sich freiwillig melden, mit finanziellen Problemen zu kämpfen habe und sich deshalb für einen Fronteinsatz entscheide. Im Übrigen registriere Moskau, so Wjorstka, seine neue Re­kruten über staatliche Unternehmen, die damit in einem Abwasch gleich noch ihre Quoten erfüllen.

Per Flugzeug nach Kursk verfrachtet, am Zielort die Flucht ergriffen

Wer sich zu einer Rekrutierung entschließt, weiß ziemlich genau, auf welche Risiken er sich einlässt. Unter ihnen sind nicht wenige, die bereits gekämpft haben, wie ehemalige Wagner-Söldner, die sich im zivilen Leben nicht zurechtfinden, oder ehemalige Häftlinge, die nach ihrem Fronteinsatz amnestiert wurden.

Wer hingegen Schulden angehäuft hat, Bankrott gegangen oder arbeitslos ist, den drängen die Behörden geradezu, den staatlichen Geldsegen anzunehmen und im Gegenzug das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Gleiches trifft für Migranten zu. Zu denen zählen auch Menschen mit russischem Pass, denn eine nicht mit der Geburt erworbene Staatsbürgerschaft kann seit kurzem wieder entzogen werden. Dafür reicht es aus, nicht bei den Militärbehörden vorstellig zu werden.

Bei dringendem Bedarf wird schlicht mit Gewalt nachgeholfen. Anfang vergangener Woche wurden rund 500 Männer, die sich geweigert hatten zu kämpfen, aus einer Kaserne bei Sankt Petersburg gegen ihren ausdrücklichen Willen per Flugzeug nach Kursk verfrachtet. Gegen einige liefen bereits Strafverfahren wegen unerlaubten Verlassens der Truppe, andere warteten noch auf eine Untersuchung durch die zuständige Militärkommission. Unter ihnen sollen etliche Männer in miserabler physischer und psychischer Verfassung sein. Einige Dutzend hätten am Zielort die Flucht ergriffen, teilte der oppositionelle Telegram-Kanal Astra mit. Auch das gehört in der russischen Armee zum Alltag.