Journalistischer Anspruch vs Bedürfnis nach Klatsch, Tratsch und Hölle des Ich-Journalismus

Homestory #26/24

Kürzlich wurde in der Redaktion darüber diskutiert, ob die strengen Regeln, die sich »Jungle World« gegeben hat, noch zeitgemäß sind. Die Antwort könnte die Leserschaft verunsichern.

Unser Editorial heißt bekanntlich »Homestory«, dabei wäre »Die diskrete Kolumne« eigentlich passender, denn die Regeln, die für diese Rubrik gelten, unterbinden nicht nur jeden Anflug von Klatsch und Tratsch.

Jede Emotionalisierung ist verboten, Katastrophen, Intrigen, Exzesse und Unglücke, die sich in der Redaktion und rund um sie ereignen, dürfen auch nicht erwähnt werden, lediglich Lappalien und Kleinunglücke wie explodierende Kaffeemaschinen oder der gebrochene Fuß eines auf dem Arbeitsweg ausgerutschten anonym bleibenden Kollegen schaffen es in diese Rubrik und werden zumeist nur umrisshaft dargestellt. Aber immer gilt: Um Himmel willen bloß keine Namen nennen! Und auf keinen Fall von sich selbst schreiben, das geht gar nicht. What happens in the jungle stays in the jungle!

Der Drang über sich, seine Mitwohnis und den putzigen Käfighamster völlig banale Sachen zu schreiben, siegt über den journalistischen Anspruch.

Es geht dabei aber nicht wirklich um etwas so Zweifelhaftes wie Diskretion. Hinter dem hausinternen do not reveal steckt vielmehr die tiefe Abneigung gegen die dem Journalismus innewohnende Tendenz zur Selbststilisierung, zum Ich-Ich-Ich-Bericht. »Meinem Kind wurde auf dem Straßenflohmarkt nichts abgekauft – die Welt ist schlecht«, »Der DHL-Bote hat nicht bei mir geklingelt – der Wirtschaftsstandort Deutschland ist in ernster Gefahr«. Zwei mehr oder weniger aktuelle Beispiele aus Zeitungen.

Zwar sind Journalisten und Journalistinnen einem sich hartnäckig haltenden Klischee zufolge ganz verrückt danach, auf die Straße zu gehen und fremde Leute anzusprechen und auszuquetschen; sie telefonieren und reisen ständig in der Weltgeschichte herum, um ex­trem wichtige Sachen zu recherchieren, aber das stimmt leider nicht, der Drang über sich, seine Mitwohnis und den putzigen Käfighamster völlig banale Sachen zu schreiben, siegt über den journalistischen Anspruch.

Aus gegebenem Anlass wurde kürzlich in der Redaktion darüber diskutiert, ob die strengen Regeln, die sich Jungle World gegeben hat, noch zeitgemäß sind: Ist es vielleicht doch okay, seine eigene Familie in eine Reportage einzubauen; und was ist von Konzertberichten zu halten, in denen der Popkritiker ausführlich darüber informiert, mit welchen Problemen er bei der Anfahrt zum Veranstaltungsort konfrontiert war und welche Farbe seine Hose hatte; und soll man ab und zu mal in der Ich-Form schreiben?

Über die selbstverständlich hochspannende Diskussion samt vieler kluger Antworten kann an dieser Stelle leider nichts weiter mitgeteilt werden, denn dies ist, siehe oben, nicht die Hölle des Ich-Journalismus, sondern eine sehr diskrete Kolumne.