Ein Gespräch mit dem Historiker Giorgi Kartwelischwili über die Proteste in Georgien

»Die Proteste brauchen neue Impulse und Inhalte«

Seit Wochen finden in Georgien Proteste gegen das von der Regierung initiierte sogenannte Agentengesetz statt. Präsidentin Salome Surabischwili hat kürzlich ihr Veto eingelegt, das allerdings vom Parlament überstimmt werden kann. Die »Jungle World« hat mit dem sozialistischen Historiker Giorgi Kartwelischwili über die Zusammen­setzung der Demonstrierenden und die Strategie der Regierung gesprochen.

Vielerorts heißt es, dass sich an den gegenwärtigen Protesten in Georgien gegen die Einführung eines Agentengesetzes nach russischem Vorbild vor allem die »Generation Z« beteilige, die als proeuropäisch gilt. Stimmt das?

Es ist definitiv so, dass die jüngere Generation bei diesen Protesten durch ihre aktive Haltung hervorsticht. Das überrascht nicht, schließlich trifft das für alle Proteste in Georgien zu. Aber auch wenn die »Generation Z« besonders engagiert ist, sind die Altersgrenzen viel weiter gefasst. In gewisser Weise trifft die Charakterisierung als proeuropäisch zu. Solche Einstellungen sind im ganzen Südkaukasus populär, in Georgien sogar noch stärker, was auch mit dem Kaukasus-Krieg von 2008 gegen Russland zu tun hat. Aber die Proteste nur darauf zu reduzieren, wäre verkehrt.

Heißt das, es spielen auch noch andere Themen eine Rolle?

Gemeint ist die Proteststruktur. Es beteiligt sich eine große Zahl verschiedener dezentral organisierter Gruppen. Als Initiatoren treten einflussreiche NGOs und Oppositionsparteien in Erscheinung, deren Rückhalt in der Gesellschaft nicht besonders groß ist. Beispielsweise geht es um einen der wichtigsten georgischen Bankunternehmer, Mamuka Chasaradse, der sich der Opposition angeschlossen hat, oder um Angehörige der früheren Regierung des ehemaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili. Die Strategie der jetzigen Regierung besteht darin, den politischen Protest in zwei Teile zu spalten: Entweder ihr seid auf unserer Seite oder auf ihrer, also der der Vorgängerregierung, so deren Botschaft. Doch ein Großteil der Bevölkerung will weder die alte Regierung zurück, noch unterstützt sie die gegenwärtige, die allen weismachen will, dass die Protestierenden hinter der alten Regierung stünden. Damit das nicht mehr funktioniert, brauchen die Proteste neue Impulse und Inhalte.

Versucht die Opposition, die Proteste zu vereinnahmen?

Ja, aber solche Versuche sind zum Scheitern verurteilt. Ihr fehlt dafür die Legitimation. Sie agiert relativ zurückhaltend, hat jedoch auch die im Oktober anstehenden Parlamentswahlen im Blick.

In Russland lässt sich beobachten, dass das sogenannte Agentengesetz seit seiner Einführung 2012 ständig verschärft und ausgeweitet wurde. Selbst die Kriterien für eine Einstufung sind willkürlich, es handelt sich um ein bloßes Repressions­instrument. Was würde das georgische Agentengesetz bewirken?

Tatsächlich ähnelt der georgische Gesetzestext stark der ersten Fassung des russischen Gesetzes. Nicht Einzelpersonen, sondern nur Organisationen können als Agent eingestuft werden. Die Voraussetzung dafür ist eine ausländische Finanzierung. In Russland reicht dafür ausländischer Einfluss aus, worunter sich ja praktisch alles subsumieren lässt. In Georgien müssten sich Organisationen in ein Register eintragen, wenn sie zu mindestens 20 Prozent aus dem Ausland finanziell gefördert werden.

»Die georgische Regierung kann das Gesetz bei Gesprächen mit der EU zur Verhandlung einbringen und versuchen, bessere Konditionen im Hinblick auf andere Fragen durchzusetzen.«

Diese Regelung macht aber nur einen Teil des Gesetzes aus, richtig gefährlich wird es an anderer Stelle. So ist das Justizministerium befugt, als ­relevant angesehene Informationen auszuwerten und anzufordern, einschließlich personenbezogener Daten. Ich kann also einen Antrag über meinen Nachbarn beim Justizministerium einreichen, den ich verdächtige, ausländischen Einflüssen ausgesetzt zu sein. Darüber erhält die Behörde Zugang zu Daten eines letztlich unbegrenzten Personenkreises.

Bedeutet das, dass das Gesetz über diese Klausel letztlich doch alle ­direkt tangiert?

Es ist sehr vage formuliert. Als Einfluss gilt, wenn man über einen Bezug zu einer NGO verfügt, die verdächtigt wird, Mittel aus dem Ausland zu beziehen, ohne bislang in dem neuen Register erfasst zu sein. Das Justizministerium muss dann intervenieren und einen entsprechenden Eintrag der Organisation vornehmen. Letztlich ähnelt die Option zur schriftlichen Übermittlung von Verdachtsmomenten ­einer totalitären Praxis, die sich Denunziation zunutze macht.

Richtet sich das Gesetz in erster Linie gegen aus westlichen Ländern geförderte Organisationen oder geht es auch um russischen Einfluss?

Unserer Einschätzung nach richtet es sich direkt gegen prowestliche Organisationen, die innerhalb der vergangenen drei Jahrzehnte an Einfluss gewonnen haben. Doch geht es nicht allein um sie. Ministerpräsident Irakli Kobachidse rechtfertigte die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes mit Verweis auf die Namochwani-Bewegung, der es vor wenigen Jahren gelungen ist, den Bau des gleichnamigen Wasserkraftwerks zu verhindern (Jungle World 19/2021; Anm. d. Red.). Mit Hilfe des Agentengesetzes sei es möglich herauszufinden, welche ausländischen Interessen hinter dieser und ähnlichen Bewegungen steckten, denen es darum gehe, die georgische Energiesicherheit zu sabotieren. Dabei war die Namochwani-Bewegung weder eine NGO noch aus dem Ausland finanziert. Betroffen wären also nicht nur aus den USA finanzierte Organisationen wie Transparency International, das Gesetz tangiert alle, die den Interessen des Kapitals im Weg stehen.

Ministerpräsident Kobachidse wird ein prorussischer Kurs vorgeworfen. Stimmt das so?

Betrachtetet man die Außenpolitik der Regierungspartei Georgischer Traum innerhalb der vergangenen zehn Jahre, lassen sich keine einschneidenden Brüche feststellen: Die EU-Annäherung ging voran, die Beziehungen zu Russland normalisierten sich zwar, aber wiederum nicht allzu sehr. Innerhalb der letzten zwei Jahre vollzog die Regierung (noch unter Kobachidses Vorgänger Irakli Gharibaschwili; Anm. d. Red.) allerdings eine konservative Wende und suchte die Nähe zu Ungarns Führung. Kobachidse hält Reden bei Veranstaltungen der rechten Partei ­Fidesz. Einen Schwenk Richtung Russland hat die Regierung öffentlich jedenfalls nicht deklariert. Meiner Einschätzung nach versucht sie, zwischen dem Westen, der EU und Russland zu ­lavieren, um so eigene Interessen zu verfolgen. Mag sein, dass ich mich irre, schließlich ist es gut möglich, dass der Kreml hinter den Kulissen weitaus präsenter ist als uns bekannt. Auch zu China pflegt Georgien engere Beziehungen.

Der Milliardär Bidsina Iwanischwili, Gründer und Ehrenvorsitzender von Georgischer Traum, hat Ende April in einer Rede die »Stärkung der Souveränität« versprochen. Was meint er damit?

Sein Souveränitätsbegriff steht im Zusammenhang mit dem Agentengesetz. Demnach ist dem Staat vorbehalten, die Arbeit von NGOs zu regulieren, die vom Westen finanziert werden, um die vom Volk gewählte Regierung zu stürzen. So lautet die offizielle Darstellung.

In derselben Rede stellte er den EU-Beitritt Georgiens bis 2030 in Aussicht, die EU kritisiert die Regierung jedoch harsch für das Gesetz. Das klingt nicht nach einem realistischen Beitrittsplan …

Ja, aber die Regierung kann das Gesetz bei Gesprächen mit der EU zur Verhandlung einbringen und versuchen, bessere Konditionen im Hinblick auf andere Fragen durchzusetzen. Als postsowjetischer Oligarch ist Iwanischwili ein gewitzter Verhandlungsprofi.

Wäre die Regierung wirklich bereit, auf das gegen so viel Widerstand forcierte Gesetz zu verzichten?

Hochrangige EU-Vertreter, die während der Proteste nach Tiflis gereist waren, signalisierten Bereitschaft, über das Gesetz zu verhandeln. Die EU-Kommission wird in ihren Einschätzungen sicherlich die Richtung für mögliche Kompromisslösungen vorgeben. Denkbar ist aber auch, dass Iwanisch­wili mit bewusst provozierten Spannungen einen zukünftigen Beitritt regelrecht sabotiert. Beispielsweise hat Kobachidse den US-Botschafter in Georgien beschuldigt, er habe zweimal innerhalb von drei Jahren versucht, die Regierung zu stürzen. Das kommt einer offenen Konfrontation gleich. Aber genauso gut ist möglich, dass eine weitere EU-Annäherung im Interesse von Georgischer Traum liegt, sollte die Partei an der Macht bleiben.

Sehen Sie Parallelen zur Entwicklung in der Ukraine vor der russischen Invasion, als Russland einer EU-Annäherung entgegenwirkte?

Manche ziehen eher Vergleiche zu Belarus, mir scheint der Vergleich mit Aserbaidschan weitaus passender, einem Land, das von einer Familie regiert wird, Bürgerrechte und die Pressefreiheit missachtet, was trotzdem ­keine Abstriche bei der Kooperation mit der EU zur Folge hat. Wege stehen also durchaus offen, auch wenn Georgien ökonomisch uninteressant ist und nur seine geopolitische Lage einbringen kann. Mir leuchtet jedenfalls nicht ein, weshalb der Kreml jetzt plötzlich die georgische EU-Annäherung sabotieren sollte, wo Russland ­einen Krieg in der Ukraine führt. Der größte Unterschied ist, dass es in der Ukraine eine relevante russischsprachige Bevölkerungsgruppe gibt, während sich die Situation in Georgien völlig anders darstellt.

Wie sehr hängt Georgiens Wirtschaft von Russland ab?

Es existieren erhebliche Abhängigkeiten. Grundnahrungsmittel wie Getreide werden größtenteils aus Russland importiert, in strategisch wichtigen Bereichen wie dem Energiesektor ist russisches Kapital stark präsent. Die liberale Wirtschaftspolitik und die Marktöffnung haben diese Entwicklung enorm begünstigt.

In einer Erklärung hat Ihr Kollektiv Khma die Nationalisierung strategisch bedeutsamer Betriebe gefordert, die dem russischen Staat oder mit ihm eng verbundenen Unternehmern gehören. Treffen ­solche Forderungen in Georgien auf Gehör?

Durchaus, auch wenn sie selbstverständlich nicht die Durchschlagskraft eines »Nein zu Russland« besitzen. Sogar im liberalen Lager finden sich Befürworter, weil eine komplette Marktöffnung den nationalen Interessen widerspricht.