In Argentinien hat Präsident Mileis harter Sparkurs nicht nur Gegner

Mit dem Omnibus gegen die Wand

Der argentinische Präsident Javier Milei fährt einen harten Sparkurs, schließt Institutionen, entlässt Staatsangestellte und will zahlreiche Deregulierungen im Arbeits-, Umwelt- und Sozialrecht durchsetzen. Die Gewerkschaften organisieren große Streiks.

Der 1. Mai ist auch in Argentinien ein wichtiger Feiertag. Das Land verfügt über eine große und starke Gewerkschaftsbewegung, die in weiten Teilen eng mit der peronistischen Partei – wie die peronistischen Bündnisse, derzeit ist es die Unión por la Patria, im Alltag genannt wird – verbunden ist. Sie ist zwar traditionell zerstritten, doch seit einigen Monaten treten die verschiedenen Verbände geeint auf wie selten zuvor – so auch am 1. Mai.

Der Grund sitzt im Präsidentenpalast: Der marktradikale Präsident Javier Milei, der seit seinem Amtsantritt im Dezember das Land mit einer Schocktherapie aus der Krise führen will. Weil die Gewerkschaften mit ihrer großen Mobilisierungskraft zu seinen stärksten Gegnern gehören, hat er von Beginn seiner Präsidentschaft an versucht, deren Macht zu beschränken. Im Rahmen seines als »ley ómnibus« bezeichneten Reformpakets wollte er das Streikrecht einschränken, Versammlungen am Arbeitsplatz verbieten und den Solidarbeitrag abschaffen, den Beschäftigte an die jeweils zuständige Gewerkschaft zahlen müssen.

Das nationale Kapital, aber auch internationale Ökonomen und der Internationale Währungsfonds loben Mileis Reformen.

Sein erster Versuch, das Omnibus-Gesetz – das so heißt, weil damit viele Reformen und Eingriffe auf einmal beschlossen werden sollen – durchzubringen, scheiterte im Februar in der Abgeordnetenkammer. Milei hat zwar die Präsidentschaftswahl im November mit so hoher Zustimmung wie niemand vor ihm seit 1983 gewonnen, sein Parteienbündnis La Libertad Avanza verfügt jedoch nur über 38 von 257 Abgeordneten und sieben von 72 Senatoren.

Auch mit den Stimmen der verbündeten konservativ-marktliberalen Partei Propuesta Repu­blicana des ehemaligen Präsidenten Mauricio Macri ist Milei weit von einer Mehrheit im Kongress entfernt. Die größten Fraktionen in beiden Kammern stellen die Peronisten, die allerdings auch keine absolute Mehrheit haben. Milei ist also auf jene Parteien angewiesen, die weder dem Präsidentenlager angehören noch sich dem linken und peronistischen Gegenlager anschließen wollen und als dialoguistas (dialogbereit) gelten – hauptsächlich die traditionelle antiperonistische Unión Cívica Radical sowie zahlreiche Lokalparteien aus den Provinzen.

Regieren per Dekret

Nicht zuletzt deswegen nutzte Milei unmittelbar nach Amtsantritt die Möglichkeit, präsidiale Dekrete zu erlassen – ein autoritäres Element der Verfassung. Indem er sich auf seinen großen Wahlerfolg berief, erließ er ein Dringlichkeitsdekret – decreto de necesidad y urgencia (DNU). Damit wollte Milei zahlreiche Deregulierungen im Arbeits-, Umwelt- und Sozialrecht durchbringen. Das Dekret hat Gültigkeit, bis es vom Kongress geprüft wird. Doch die Milei treuen Vorsitzenden der beiden Kammern verhinderten dies monatelang. Derweil setzten Gerichte zahlreiche einzelne Artikel außer Kraft und Verfassungsexperten stuften es als regelwidrig ein, bis der Senat schließlich Mitte März mit großer Mehrheit entschied, das Dekret nicht anzunehmen. Eine Abstimmung im Abgeordnetenhaus steht noch aus.

Dabei verfolgt der Präsident eine Art Doppelstrategie. Öffentlich gibt er sich immer noch als der kraftmeiernde Staatszertrümmerer, als der er den Wahlkampf bestritten hatte. So bezeichnete er den Kongress nach dem ersten Scheitern seines »ley ómnibus« als »Rattennest«. Doch Mileis Minister und Berater begaben sich in intensive Verhandlungen mit der dialogbereiten Opposition. So konnte Milei vergangene Woche einen ersten Erfolg verbuchen: Das Gesetz wurde im Abgeordnetenhaus angenommen – allerdings in einer stark abgespeckten Version. Von über 600 Artikeln blieben 232 übrig, dazu kamen 112 neu ausgehandelte.

Direkt nach Amtsantritt wertete Milei den Peso stark ab, wodurch die Inflation sprunghaft anstieg, stoppte alle öffentlichen Bauvorhaben, fror die Renten ein, kürzte Subventionen für Strom und Gas und entließ Tausende Staatsbedienstete.

Der Bereich der Arbeitsrechtsreform, gegen die die Gewerkschaften im Januar zu einem ersten Generalstreik aufgerufen hatten, ist von 60 auf 16 Artikel geschrumpft. Die oben genannten Maßnahmen sind nicht mehr enthalten, aber bei Anstellungen ist weiterhin eine Ausweitung der Probezeit auf bis zu zwölf Monate vorgesehen. Außerdem sollen nur ein Dutzend statt 40 staatliche Unternehmen privatisiert werden, darunter die Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas. Die Vollmachten, die Milei sich für vier Jahre in elf Bereichen erteilen lassen wollte, umfassen nun lediglich vier Bereiche – Verwaltung, Finanzen, Wirtschaft und Energie – und sind auf ein Jahr beschränkt. Es war insbesondere dieses »Ermächtigungsgesetz«, das viele Parlamentarier im Fe­bruar zur Ablehnung bewogen hatte.

Diese parlamentarischen Misserfolge hinderten Milei nicht daran, großen Schaden anzurichten. Direkt nach Amtsantritt wertete er den Peso stark ab, wodurch die Inflation sprunghaft anstieg, stoppte alle öffentlichen Bauvorhaben, fror die Renten ein, kürzte Subventionen für Strom und Gas und entließ Tausende Staatsbedienstete. In der Vorstellung Mileis und vieler seiner Wähler sind ein Großteil der Staatsbediensteten sogenannte »ñoquis« – Angestellte, die nicht arbeiten, und nur am Ende des Monats kassieren. Durch die Zusammenlegung verschiedener Ministerien und Budgetkürzungen vor allem für die Provinzen sollen bis zu 75.000 Personen entlassen werden.

Sparkurs bei der Bildung

Den öffentlichen Universitäten droht das Geld auszugehen. Studierende und Alumni hauptsächlich der Universidad de Buenos Aires (UBA), einer der renommiertesten Hochschulen Lateinamerikas, wandten sich öffentlich gegen die Schließung. Öffentliche Bildung ist in Argentinien kostenlos und ein wichtiges Instrument sozialer Mobilität. »Wir sind die Arbeiterkinder, die studieren konnten«, war demnach auf vielen Protestschildern zu lesen, als vor gut drei Wochen über 400.000 Menschen in der Hauptstadt Buenos Aires gegen den Sparkurs bei der Bildung protestierten. Der UBA könnte eigenen Angaben zufolge im Juni das Geld für Personal und Instandhaltung ausgehen.

Geschlossen wurden bereits die staatliche Nachrichtenagentur Télam und das staatliche Institut gegen Diskriminierung INADI. Betroffen ist auch die Wissenschafts- und Kulturförderung. Der wissenschaftlich-technische Forschungsrat Conicet soll zwar nicht mehr wie ursprünglich geplant ganz geschlossen werden, muss jedoch mit einem viel kleineren Budget auskommen, wogegen schon im Februar über 10.000 Wissenschaftler eine Petition unterzeichneten. Von der Schließung bedroht sind nach wie vor das staatliche Institute für Filmförderung, INCAA, und das für Angelegenheiten der Indigenen, INAI.

Milei rühmt sich derweil damit, erstmals seit 16 Jahren einen Haushaltsüberschuss erwirtschaftet und die jährliche Inflationsrate, die im März auf über 270 Prozent gestiegen ist, leicht gebremst zu haben. Allerdings sind die Reallöhne bereits im ersten Monat seiner Amtszeit um 13 Prozent gesunken – in der gesamten Amtszeit seines peronistischen Vorgängers Alberto Fernández waren es nur sechs Prozent. Große Teile der Mittelschicht – Lehrer, Angestellte, einfache Beamte – fürchten eine Verschlechterung ihrer Lage.

Verdopplung der Senatorendiäten

Unterdessen haben sich die Senatoren im Handstreich die Diäten verdoppelt – auf gut 4.000 US-Dollar, was im lateinamerikanischen Vergleich zwar wenig ist, aber weit über dem Mindestlohn von umgerechnet etwa 155 US-Dollar liegt. Diesen ­erhält ohnehin nur, wer einer versicherungs- und steuerpflichtigen Arbeit nachgeht; ein Großteil der Beschäftigung entfällt jedoch auf den informellen Sektor, wo die Löhne wesentlich niedriger sind – und wodurch dem Staat Einnahmen verloren gehen.

Um die Wirtschaft zu beleben, will Milei vor allem den Bergbau und die Landwirtschaft intensivieren sowie ausländische Investoren anlocken. Schon jetzt machen Agrargüter wie Soja einen Großteil der argentinischen Exporte, insbesondere nach Europa und China, aus. Gegen den Widerstand indigener Gruppen will Milei die Förderung von Lithium vorantreiben sowie den dünn besiedelten Süden des Landes für die Gewinnung von Energie freigeben.

Seine Budgetkürzungen schüren allerdings einen Konflikt mit den Provinzen, die meist von konservativen Peronisten regiert werden, die großen Wert auf ihre politische Eigenständigkeit auch gegenüber den eigenen Strömungen im peronistischen Bündnis legen. Die patagonische Provinz Chubut hat bereits gedroht, die Einnahmen aus Gas- und Ölförderung einzubehalten, sollten keine Bundesgelder mehr fließen.

An die großen Gesetze im gesellschaftspolitischen Bereich, die die geschlechtliche Selbstbestimmung und das Abtreibungsrecht regeln, scheint Milei sich (noch) nicht heranzutrauen.

Argentinische Kapitalvertreter, aber auch internationale Ökonomen und der Internationale Währungsfonds (IWF) loben Mileis Reformen. So hatte der IWF in Bezug auf den Haushaltsüberschuss mitgeteilt, »die bisherigen Fortschritte« seien »wirklich beeindruckend«. Auch der Argentinien-Experte des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, Simon Gerards Iglesias, sagte dem Spiegel: »Das alles ist kein falscher Weg, um aus der Dauerrezession zu kommen.«

Im gesellschaftspolitischen Bereich hat sich Milei bisher auf leicht durchsetzbare Projekte beschränkt. So machte er aus dem Saal der Frauen im Präsidentenpalast den Saal der Nationalhelden – statt der Porträts berühmter argentinischer Frauen hängen dort nun ausschließlich Männer. Außerdem ordnete er an, in Behörden keine geschlechtergerechten Sprachneuerungen zu nutzen, und beschränkte Schulungen zu geschlechtsspezifischen Fragen in Bundesbehörden. Doch an die großen Gesetze, die die geschlechtliche Selbstbestimmung und das Abtreibungsrecht regeln, scheint er sich (noch) nicht heranzutrauen.

Als eine Abgeordnete seiner Partei einen Gesetzesentwurf zur Kriminalisierung von Abtreibungen einbrachte und dafür harsche Kritik erntete, gab Milei zu Protokoll, das Projekt stehe momentan nicht an. Darin könnte das Kalkül stecken, nicht alle sozialen Bewegungen – Gewerkschaften, Feministen und Menschenrechtler – auf einmal gegen sich aufzubringen. Zunächst muss er sich weiterhin mit den Gewerkschaften herumschlagen. Die haben für Donnerstag zu einem zweiten Generalstreik aufgerufen.