Eine Aufarbeitung der Versäumnisse in der Covid-19-Pandemie wäre notwendig

Tausend Seiten heiße Luft

»Querdenker« sehen durch interne Protokolle des Robert-Koch-Instituts ihr Weltbild bestätigt, obwohl dort nichts Überraschendes zu finden war. Medien wie das ZDF haben durch irreführende Skandalisierung dazu beigetragen.

Spätestens seit die WHO im März 2023 den globalen Gesundheitsnotstand aufhob, ist das Bedürfnis danach groß, einen Schlussstrich unter die Covid-19-Pandemie zu ziehen. Obwohl die WHO explizit und mehrfach darauf hinwies, dass die Pandemie nicht beendet sei, beeilten sich viele Politi­ker:in­nen, Ärzt:innen und auch Journa­list:in­nen, die frohe Botschaft zu verkünden: Es ist geschafft! Die dunkle Zeit liegt hinter uns, jetzt ist alles wieder wie früher.

Dass dem nicht so ist, ist offensichtlich. Es wird kaum noch getestet, weshalb Inzidenzen nicht mehr aussagekräftig sind, allerdings war die Sars-CoV-2-Viruslast, die diesen Winter im Abwasser festgestellt wurde, so hoch wie nie zuvor. Auch wenn durch die Impfungen und vorherige Infektionen die Verläufe mit Todesfolge merklich seltener geworden sind, bleiben andere coronabedingte Probleme.

Die Sars-CoV-2-Viruslast, die diesen Winter im Abwasser festgestellt wurde, war so hoch wie nie zuvor.

Dazu gehören hohe Krankenstände insbesondere auch im Gesundheitswesen sowie die Gefahr, an Long Covid zu erkranken oder eine der anderen Erkrankungen im ­Gefolge einer Covid-19-Infektion zu bekommen – Schlaganfälle, Herzinfarkte, Diabetes, Parkinson oder Alzheimer. Dieses Risiko gehört seit 2020 zur Lebensrealität dazu. Entsprechend nennen manche Experten diese Pandemie auch ein mass-disabling event, eine Massenversehrung. Je nach Erregervariante erkranken fünf bis 15 Prozent aller Infizierten an Post- oder Long Covid.

Was aber tatsächlich abgeschlossen ist (und entsprechend aufgearbeitet werden kann), sind die politischen Maßnahmen, die zum Schutz der Bevöl­kerung verordnet worden waren. Doch beschäftigen sich mit ihnen derzeit fast ausschließlich »Quer­den­ker:in­nen« und Verschwörungstheoretiker:innen sowie jene, die die Maßnahmen sowieso schon immer abgelehnt haben. Das zeigte sich kürzlich wieder anhand der sogenannten »RKI Files«.

Bei diesen handelt es sich um die schriftlichen Protokolle des Krisenstabs des Robert-Koch-Instituts (RKI), der damals die Regierung zum Umgang mit der Pandemie beriet – insgesamt mehr als 1.000 Seiten. Wenn auch an einigen Stellen geschwärzt, sind die Protokolle seit einiger Zeit frei zugänglich.

Paul Schreyer, Ken Jebsen und die Zeitschrift Compact

Darauf hatte der Journalist Paul Schreyer, einer der Herausgeber des Online-Portals Multipolar, unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz erfolgreich geklagt. Um einen Eindruck zu geben, aus welchem Milieu Schreyer stammt: Er veröffentlichte ein Buch, das »neue Fakten und Hintergründe zu 9/11 versprach«, und diskutierte darüber mit dem bekannten Verschwörungstheoretiker Ken Jebsen auf einer Veranstaltung der rechtsextremen Zeitschrift Compact.

Die Aufregung bei der Veröffentlichung war groß, doch bisher stellten sich die vermeintlichen Enthüllungen aus den »RKI Files« als heiße Luft heraus. Es ist zwar möglich, dass sich irgendwo in diesem Textberg noch eine brisante Information verbirgt, aber wahrscheinlich ist es nicht.

Medien wie Multipolar aber auch das ZDF versuchten, die RKI-Protokolle zu skandalisieren.

Gleichwohl haben Medien wie Multipolar, aber auch das ZDF versucht, pu­blizistisch Ertrag aus dieser Klage zu schlagen, und sich um ein paar Skandalisierungen bemüht. Zum Beispiel behauptete Multipolar, die Risikobewertung des RKI sei womöglich politisch gesteuert gewesen. Diese Vermutung gab das ZDF in einem Artikel mit der Überschrift »Die brisanten Corona-Protokolle des RKI« einfach wieder, als wäre sie plausibel. Sie entbehrte aber jeder Grundlage, weshalb das ZDF diesen Artikel später entsprechend ergänzen musste. Nun heißt es dort: »Die Passage in den Protokollen legt allerdings nahe, dass das RKI die Risikobewertung selbst gemacht hat.«

Dass in den Sitzungen diskutiert wurde, ob FFP2-Masken jenseits des Arbeitsschutzes wirksam seien, deutet das ZDF um zu der Behauptung, die Masken seien »nur für Fachpersonal sinnvoll«. Doch FFP2-Masken wirken, das war auch damals unbestritten; es gab nur noch keine Studien dazu, wie gut sie vor dem neuartigen Virus schützen, wenn sie von Menschen getragen werden, die sich mit Infektionsschutz nicht auskennen.

Korruption straffrei

Das ZDF kündigte seinen Beitrag damit an, die Dokumente »könnten politische Sprengkraft haben«. Zumindest mittelbar könnte das stimmen: Die FDP, gewissermaßen der gemäßigte parlamentarische Arm der Maß­nah­men­geg­ner:innen, fordert zur Aufarbeitung der Pandemie schon die Einsetzung einer Enquête-Kommission.

Eine solche hätte durchaus interessante Fragen zu beantworten, die eigentlich auch Thema journalistischer Berichterstattung sein könnten – aber Artikel zur Pandemie und den entsprechenden Gegenmaßnahmen werden wohl nur dann noch viel angeklickt, wenn sie das Weltbild der »Maßnahmenkritiker« bestätigen; die an­deren scheinen das Thema am liebsten vergessen zu wollen.

Zum Beispiel haben zwei Abgeordnete der Unionsparteien während der Pandemie von ihrer Stellung profitiert, um den staatlichen Ankauf von Masken einzufädeln, und damit enorm viel Geld verdient. Gerichte entschieden, dass es rechtlich an diesen Deals nichts zu beanstanden gab und die beiden Abgeordneten ihre Gewinne behalten dürfen. Wie kann das sein, dass Korruption in Deutschland straffrei ist?

Es wäre für jedes Zeitungsressort etwas dabei, auch das Feuilleton: Wie kommt es, dass die Hälfte aller weltweit gemeldeten Verdachtsfälle von Impfnebenwirkungen nach Covid-19-Impfungen, die als »Post-Vac-Syndrom« eingestuft werden, auf Deutschland entfallen, wie das Paul-Ehrlich-Institut vergangenes Jahr feststellte? Ab welchem Zeitpunkt war klar, dass das Virus für Kinder nicht harmlos ist, und weswegen wurden selbst Kinder mit vorerkrankten Eltern in die Schulen gezwungen? Was ist mit all den Luftfiltern passiert, die ein oder zwei Jahre in den Schulen aufgestellt wurden, deren Wartungsverträge jetzt aber ausgelaufen sind? Werden die teuren Geräte nun einfach entsorgt?

Berichte von stiller Triage

Es gibt einige Berichte von stiller Triage; dass also zum Beispiel Pflegeheime ihre erkrankten Be­woh­ne­r:in­nen gar nicht mehr in die Krankenhäuser geschickt haben, um dadurch das Gesundheitssystem zu entlasten. Werden solche Berichte irgendwo gesammelt und aufgearbeitet, oder ist das etwas, womit wir jetzt alle leben müssen: dass halt hier und da ein bisschen ausgesiebt wird, und am Ende ist niemand verantwortlich?

Das wäre auch eine interessante Information für die Angehörigen von Risikogruppen, die bis jetzt überlebt haben. Mit Blick auf sie hat Anthony Fauci, einer der weltweit renommiertesten Virologen, vergangenes Jahr gesagt, dass mit der Abschaffung der Maßnahmen und der Renormalisierung des Lebens manche »auf der Strecke bleiben werden« (»fall on the wayside«).

Es ist eigentlich allen klar, dass es so kommen wird und wer diese Risikogruppen sind. Das Risiko, an Covid-19 zu sterben oder schwere Nachwirkungen zu haben, steigern nicht allein rein medizinische Faktoren, sondern auch soziale. Besonders bedroht sind Beschäftigte im Pflege- und Erziehungsbereich. Angehöriger dieser beiden Berufsgruppen sind am häufigsten an Long Covid erkrankt. Auch deswegen hat der Chefredakteur der Wissenschaftszeitschrift The Lancet vorgeschlagen, statt von einer Pandemie von einer »Syndemie« zu sprechen, bei der nicht nur das Virus selbst, sondern auch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle beim Symptombild spielen.

Die Deutungshoheit über das für Laien kaum zu durchschauende Quellenmaterial werden jene erhalten, die sich am hartnäckigsten darin verbeißen und immer neue aus dem Zusammenhang gerissene Zitate für den nächsten Aufreger ausgraben.

Die Protokolle des RKI, so banal sie inhaltlich sind, werden Konsequenzen haben. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat angekündigt, die bereits veröffentlichten Protokolle ungeschwärzt zugänglich zu machen. Sie decken den Zeitraum von Januar 2020 bis April 2021 ab. Spätere Protokolle sollen (noch) nicht zugänglich gemacht werden, obwohl diese sehr viel interessanter zu sein versprechen. Aus ihnen könnte hervorgehen, warum in Deutschland (wie in einem Großteil der EU auch) die Strategie des containment, also die Zahl der Infektionen bis zur weitgehenden Impfung der Bevölkerung möglichst gering zu halten, aufgegeben wurde zugunsten des sogenannten schwedischen Wegs der Durchseuchung, ohne auf die Zahl der Impfungen Rücksicht zu nehmen.

Dass die Behörden sich dagegen sperrten, solche Informationen herauszugeben, wird derzeit viel kritisiert. Transparenz ist prinzipiell gut, allerdings auch zweischneidig; der Zugang zu mehr Informationen bedeutet nicht automatisch eine besser informiertere, aufgeklärtere Öffentlichkeit, auch das hat sich bei der Skandalisierung der RKI-Protokolle gezeigt. Die Deutungshoheit über das für Laien kaum zu durchschauende Quellenmaterial werden jene erhalten, die sich am hartnäckigsten darin verbeißen und immer neue aus dem Zusammenhang gerissene Zitate für den nächsten Aufreger ausgraben. Nach allen bisherigen Erfahrungen werden das »Quer­den­ker:in­nen« sein sowie gemäßigtere »Maßnahmenkri­tiker«, die nicht nur von der Welt und der Bild-Zeitung sekundiert werden, sondern in diesem Fall auch vom ZDF.

Es wäre aber bitter nötig, nicht nur politisch und in Fachkreisen einige Lehren aus der Pandemie zu ziehen, sondern auch gesellschaftlich – denn die nächste folgt bestimmt. Derzeit passiert das nicht, weswegen nur die Hoffnung bleibt, dass sich zum Beispiel die Erreger der Vogelgrippe noch etwas Zeit lassen, bis sie nicht nur von Vögeln auf Menschen, sondern auch von Mensch zu Mensch überspringen.