Beim Nature Writing geht es um Hermeneutik, nicht um Naturkunde

Die Schrift der Natur verschwimmt

Nature Writing ist zur literarischen Vorzeigekunst der Prediger des Anthropozäns geworden. Unter dem Modebegriff werden allerdings auch Werke subsumiert, die wie die Bücher von Esther Kinsky unbedingt lesenswert sind.

Dass in der Natur gelesen werden könne wie in einem Buch, weil in ihren Manifestationen eine Sprache chiffriert sei, für deren Verständnis es ebenso der Erfahrung des Gegenstands wie der Fähigkeit bedürfe, sich von ihm einen Begriff zu bilden, ist ein Topos der frühromantischen Natur- und Kunstphilosophie. Allerdings hat die Romantik diesen Topos nicht erfunden. Die Geschichte seiner Entstehung, die Hans Blumenberg in der 1981 erschienenen Studie »Die Lesbarkeit der Welt« ­rekonstruiert hat, reicht, vermittelt über die Frühe Neuzeit, bis in die Antike zurück.

Die von Blumenberg untersuchten Metaphernkomplexe, in denen sich jener Topos manifestiert hat – die Idee eines »Weltbuchs«, vom Himmel als Buch beziehungsweise vom Buch als Himmel, die ebenso theologisch wie naturkundlich motivierte Suche nach der »Weltformel«, das as­trologisch-astronomische Verständnis der Sterne als Bilderschrift, schließlich der Gedanke eines »absoluten Buches«, den Stéphane Mallarmé für die Moderne geltend machte –, sie alle variieren das gleiche Motiv: Die Natur als lebendige, wandelbare Konstellation all dessen, was die Menschen als Objektives vorfinden, kann nur deshalb von ihnen verstanden werden, weil in ihr selbst bereits die Möglichkeit angelegt ist, sie mit Bild und Begriff aufzuschließen.

Dass die Natur chiffriert sei und nach Art einer Rätselschrift entziffert werden müsse, meint dabei zwei ­einander widersprechende Tatsachen zugleich: Als den Menschen Gegebenes und sie Umfassendes ist sie ihnen zugänglich. Doch diese Zugänglichkeit offenbart sich ihnen nur in Form der Unzugänglichkeit – des von den Objektivationen der Natur ausgehenden Appells, sie als sich den Menschen Entziehendes zu begreifen.

Die Beliebtheit, derer sich das sogenannte Nature Writing seit einigen Jahren auf dem publizistischen Markt erfreut, könnte in einem naiven Beobachter die Hoffnung auf eine Renaissance der altehrwürdigen Kunstautonomie und auf eine avancierte Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Natur erwecken.

Wenn von der Natur als entzifferbarer Schrift die Rede ist, geht es folglich nie unmittelbar um Naturkunde und erst recht nicht um Naturschutz, sondern immer um Hermeneutik: um Weisen des Verstehens und Verhaltens, die sich ihrem Gegenstand anzuähneln und ihn sich anzuverwandeln versuchen, statt ihn sich oder sich ihm zu unterwerfen.

Die Beliebtheit, derer sich das sogenannte Nature Writing seit einigen Jahren auf dem publizistischen Markt erfreut, könnte in einem naiven Beobachter daher die Hoffnung auf eine Renaissance der altehrwürdigen Kunstautonomie und auf eine avancierte Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Natur erwecken. Doch es gibt keine naiven Menschen mehr, erst recht nicht im Kulturbetrieb, und schon ein oberflächlicher Blick auf die Texte im Umfeld des Nature Writing zeigt, dass hier ideologischer Schmarrn mit dem Besten der zeitgenössischen Literatur zusammengequirlt wird, um in Vergessenheit geraten zu lassen, was im Topos der Natur als Schrift noch immer nachklingt.

Der Rezensionsbetrieb hat den neuen Trend zur Naturschrift rechtzeitig mitbekommen: Seit 2017 gibt es einen vom Verlag Matthes & Seitz – zunächst in Kooperation mit dem Bundesamt für Naturschutz, von 2019 an mit der Stiftung Kunst und Kultur – verliehenen Preis für Nature Writing in der deutschsprachigen Literatur, der einmal im Jahr vergeben wird und mit 10.000 Euro dotiert ist. Mittlerweile beteiligt sich das Umweltbundesamt finanziell und organisatorisch an der Preisverleihung.

Aber auch unabhängig von diesem Preis wird seit einigen Jahren fast ­alles, was sich irgendwie als »Sprache der Natur« verkaufen lässt, als Nature Writing beworben oder besprochen, zuletzt der 2023 im Picus-Ver­lag erschienene Roman »Weil da war etwas im Wasser« von Luca Kieser. Dieses im schlechten Sinn unlesbare Buch ist in der Ich-Form aus der Per­spektive eines Riesenkalmars erzählt, dessen Tentakeln durch Berührung mit einem Tiefseekabel mit der Fähigkeit zur Sprache begabt wurden und der dadurch von den Stigmatisierungserfahrungen der als Ungeheuer ge­lesenen Meeresbewohner berichten kann.

Außerdem begegnen dem Leser bei Kieser: Sanja, eine junge Forsttrawler-Praktikantin, und Dagmar, eine in der Antarktis stationierte tieraktivistische Geheimdienstmitarbeiterin, begleitet von ausdrücklich oder indirekt anwesenden Autoren anderer Tiefseesromane, wie Jules Verne (»Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«, 1870) und Jean Giono (»Die große Meeresstille«, 1948), die tatsächlich schreiben konnten, aber kaum noch gelesen werden.

Gionos verstörender Roman ist in deutscher Übersetzung bei Matthes & Seitz erschienen und dort weiterhin lieferbar; auch viele andere Veröffentlichungen, die der Verlag unter dem Label des Nature Writing bewirbt (vor allem die Romane und Essays der Nature-Writing-Preisträgerin Esther Kinsky), zeigen, dass es ungerecht wäre, den Modebegriff einfach mit seinen unausgegorenen Hervorbringungen zu identifizieren.

Trotzdem stellt sich die Frage, weshalb ein Konglomerat aus Trivialem und Avanciertem von einer beides umfassenden Gattungsbezeichnung subsumiert werden kann. Am wenigsten verdient hat diese Subsumption Kinsky, die als Übersetzerin und Schriftstellerin arbeitet und den poetischen Charakter jeder Übersetzung ebenso wie den Übersetzungscharakter jeglicher Dichtung in ihren Werken reflektiert.

Das Thema von Kinskys literarischen Arbeiten ist weniger die Natur denn die Landschaft als der Ort der gesellschaftlich umgeformten und trotzdem nach Art eines Weltbuches entzifferbaren Natur. Umgekehrt befasst sie sich in ihren übersetzungstheoretischen Schriften mit der Fähigkeit der jeweiligen Sprachen, sich den ihnen gegenübertretenden und sie herausfordernden Fremdsprachen anzuschmiegen, um sie ins Eigene zu überführen und dadurch deren Fremdheit zu retten. In dem 2013 erschienenen Essay »Fremdsprechen« zeigt sie, wie diese rettende Überführung des Fremden ins Eigene eine Befremdung der eigenen Sprache bewirkt.

Ihr ein Jahr später erschienener Roman »Am Fluss« ist der Versuch der Verwirklichung einer solchen Überführung im Modus der literarischen Stadterfahrung. Das Buch folgt fragmentarisch und ohne chronologische Ordnung Spaziergängen der Erzählerin durch London, die entlang des River Lea von der Stadt in die Vorstadt und in das zersiedelte Umland führen und deutlich machen, wie sich Natur und bereits wieder im Zerfall begriffene Industrie, zurückgelassene und sich wieder in Natur verwandelnde Zivilisation bis zur Ununterscheidbarkeit verschränken. Der Fluss, leitmotivische Verbindung der Erzählfragmente, wird zur Metapher solchen Übergangs zwischen Natur, Landschaft und Stadt, zwischen Bestehendem, Vergangenem und in die Vergessenheit Zurücksinkendem.

Nur bei wenigen Autoren, die unter dem Label Nature Writing gehandelt werden, verschränken sich immanente Poetologie und literarisches Schreiben mit dem Ziel, die Natur in ihren Residualformen lesbar zu machen, so überzeugend wie bei Kinsky.

Nur bei wenigen Autoren, die unter dem Label Nature Writing gehandelt werden, verschränken sich immanente Poetologie und literarisches Schreiben mit dem Ziel, die Natur in ihren Residualformen lesbar zu machen, so überzeugend wie bei Kinsky. Ähnliches ist am ehesten Marion Poschmann, der ersten Trägerin des Nature-Writing-Preises, gelungen. Wie bei Kinsky gehen Literatur und poetologische Reflexion bei ihr ineinander über, etwa in ihrem 2016 erschienenen dichtungstheoretischen Essay »Mondbetrachtung in mondloser Nacht«. Und wie Kinsky geht es Poschmann nicht um die Anrufung einer den Menschen verschlingenden Natur, sondern um Natur als von der Einwirkung der Menschen Überformtes, etwa in dem ebenfalls 2016 erschienenen Gedichtband »Geliehene Landschaften«, der schon im Titel das Kunsthaft-Fremde der Naturerfahrung exponiert.

Ein fibelhafter Blick auf die Natur, der ihre Gegenstände zum Zweck der Rettung abtötet und sammelt, bestimmt auch die Gestaltung der Reihe mit Tier-Essays verschiedener Autoren bei Matthes & Seitz (über Esel, Eulen, Wölfe, Heringe und Insekten). Hier wie auch sonst unter dem Oberbegriff Nature Writing lassen sich literarisch und poetologisch bemerkenswerte Arbeiten aufspüren. Dafür muss aber von der nur scheinbar verbindenden Genrebezeichnung Nature Writing abgesehen werden, die als »Plastikwort« (Uwe Pörksen) höchst Unterschiedliches zusammenbringt.

Dass Kinsky und Poschmann gemeinsam mit Autoren wie Kieser derselben Gattung zugeschlagen werden, zeugt von einem Verschwimmen des Begriffs der Natur wie der Dichtung selbst, das symptomatisch für das Zeitalter des sogenannten Anthropozän ist. Unter diesem Schlagwort ziehen seit einigen Jahren Feinde von Humanität und Zivilisation die Bilanz der vermeintlich abgeschlossenen Ära des Menschen: Daher rührt die Vorliebe für Fibeln, Herbarien und naturkundliche Sammlungen, die in der Epoche der Aufklärung – von Linné bis Darwin – humanistischen Absichten folgten.

Die Prediger des Anthropozäns können solche Sammlungen nur noch als Museen eines abgeschlossenen Teils der Naturgeschichte lesen. Deshalb gerinnt ihnen das Beste wie das Banalste zum Beweis ihrer vorgefassten Weltanschauung. Insofern muss vergessen werden, was Nature Writing ist, um schätzen zu lernen, was als Nature Writing verkauft wird.