»Wie Leute, die Pepsi oder Cola trinken«
Ihr 2022 veröffentlichter Aufsatz »Der neue Midcult« wurde viel diskutiert. Mittlerweile haben Sie mit dem Buch »Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens« nachgelegt. Was haben »Midcult« und »Populärer Realismus« miteinander zu tun?
Unter Populärem Realismus verstehe ich ein Verfahren, eine Schreibweise, die dafür sorgt, dass man sich mit der Textebene nicht beschäftigen muss und man sich sofort auf der Darstellungsebene befindet. Darunter fallen im Grunde alle möglichen Genres, zum Beispiel Krimis, Science-Fiction und Fantasy. Meine These ist nun, dass sich diese Art des Schreibens zu einem »International Style« unter Marktbedingungen herausbildet, also unter den Bedingungen von Angebot und Nachfrage. Midcult kommt dann ins Spiel, wenn diese Literatur den Anspruch erhebt, Hochliteratur zu sein, diesen Anspruch aber nicht einlösen kann.
Wie suggeriert ein Roman, Hochkultur zu sein?
Das macht er durch Angebote von Bedeutsamkeit. Bestimmte Zeichen in dem Roman suggerieren dem Leser: Ich bin bedeutsam. Oft sind das leere Zeichen wie »Welt«, »Sinn«, »Krebs« oder »Tod«. Bedeutsamkeit ist aber eine Kategorie, die gefüllt werden muss. Und wenn das nicht der Fall ist, dann würde ich von Midcult sprechen. Manchmal ist das aber auch gar nicht dem Werk anzulasten, sondern den Rezipienten, die in dem Werk etwas finden wollen. Die eigentlich spannende Frage ist dann die: Gibt es Literatur, die es schafft, ihren Bedeutsamkeitsanspruch einzulösen?
Sie schreiben, mit Fantasy komme der Populäre Realismus zu sich selbst. Wie ist das zu verstehen?
Fantasy hat die Eigenschaft, vorrangig eine serielle Welt zu produzieren, in der man sich gerne aufhält, wie in »Herr der Ringe« oder in »Game of Thrones«. Dabei tut Fantasy nicht so, als ob es um etwas im engeren Sinne Literarisches ginge, sondern hier geht es einzig und allein um das world building. Es geht nicht um Sprache oder um Originalität, sondern man ist immer sofort in der Welt, und in der Welt passiert etwas. Das, was passiert, ist aber eigentlich gar nicht so wichtig, sondern die Welt ist wichtig. Und das scheint mir eine Strategie zu sein, mit der man Leser- und Zuschauertreue produzieren kann, weshalb das world building ein eminentes Verfahren des Populären Realismus darstellt, mit dem man Marktanteile generiert.
Kritisieren Sie Fantasy dafür?
Nein. Fantasy macht das ja total unashamed und ist vollkommen immun gegen Literaturkritik, eben weil es nur um die Rückkopplung mit ihrer fanbase geht. Ich beschreibe diese Prozesse bloß. Überhaupt möchte ich nicht so verstanden werden, als würde ich vorrangig Kritik üben, was vielleicht manchmal so klingt, wenn man mein Buch liest. Ich habe keine normativen Ansprüche an Literatur. Das wäre vermessen und es würde sowieso niemand auf mich hören. Ich beschreibe nur ein Feld und gucke, was es gibt.
Beim Lesen Ihres Buchs hat man tatsächlich manchmal das Gefühl, als ob es normativ gemeint wäre.
Ja, das war ja auch schon das Problem mit dem Midcult-Text in der Pop-Zeitschrift damals. Auf einmal kam das so rüber, als ob ich was gegen postmigrantische Literatur hätte oder so. Deshalb war mir wichtig, im zweiten Teil des Buchs die positiven Beispiele zu bringen.
Bleiben wir noch bei den negativen. Ein wichtiger Begriff ist die Stilgemeinschaft. Sie sprechen auch von »ästh-ethischen Stilgemeinschaften«. Was hat es damit auf sich?
Eine Stilgemeinschaft ist wie eine Markengemeinschaft, also wie Leute, die Pepsi oder Cola trinken. Das ist erst mal etwas rein Ästhetisches. Mein Eindruck ist aber, dass in der heutigen Popkultur Fragen der Lebensführung besonders wichtig sind, weshalb sich ethische Fragen in einem ständigen Konglomerat mit ästhetischen Wahlentscheidungen befinden. In dem Moment, in dem ich mich für diese Art von Community, für diese Art von Literatur, Musik oder Kleidung entscheide, entscheide ich mich für eine ganze Lebensweise. Das Ästhetische kann dann zum Problem werden, wenn ich bei bestimmten Fragen nicht mehr rational entscheide, sondern weil meine Stilgemeinschaft das so tut.
Olivia Wenzels »1000 Serpentinen Angst« und Sharon Dodua Otoos »Adas Raum« gelten Ihnen als Midcult für die Antirassismus-Stilgemeinschaft, Anke Stellings Roman »Schäfchen im Trockenen« als Midcult auf dem Gebiet der Klasse. Ist das ein Problem, dass Autor:innen für bestimmte Communitys schreiben?
Die Frage stelle ich mir immer wieder. Auf der einen Seite würde ich antworten, dass es kein Problem ist. Es ist ja auch gut, Gemeinschaftsgefühle zu stärken. Zum Problem wird es, wenn das als große Literatur verkauft wird und man innerhalb einer Stilgemeinschaft immer schon weiß, was gut ist und was schlecht. Dadurch wird ein Text trivial, und man muss gar nicht mehr denken. Dann ist er wirklich nur noch Inneneinrichtung.
Dem Midcult stellen Sie mehrere komplexere Erzählweisen entgegen. Das ist zum einen das »Tentakuläre Erzählen« und zum anderen der »Kalkülroman«. Beginnen wir mit Ersterem, das Sie Hengameh Yaghoobifarah, Lisa Krusche und Mithu Sanyal zurechnen. Inwiefern unterscheiden sich die Bücher dieser Autorinnen vom Midcult?
Während bei Otoo, Stelling oder Wenzel immer schon klar ist, was richtig und was falsch ist, ist das bei diesen Autorinnen nicht so. Hier wird, so mein Eindruck, wirklich etwas verhandelt und nicht bloß auf etwas rekurriert, was man eh schon weiß. Hier öffnet man den Text auf etwas hin, was in der Zukunft noch gelöst werden muss. Der Begriff »Tentakuläres Erzählen« stammt ja von Donna Haraway und beschreibt, dass Tentakel nach möglichen anderen Gemeinschaften und Verbündeten ausgestreckt werden, um innerhalb der Situation, in der man sich befindet, voranzukommen. Darum geht es.
Sie bringen das mit Haraways Formel »Make kin, not babies« (Macht euch verwandt, nicht Babys) auf den Punkt.
Natürlich geht es ganz ohne Babysmachen auf Dauer auch nicht, doch ist die Idee, dass die Zukunft nicht diese natürlichen Gemeinschaften wie Familien sind, sondern andere Allianzen. Laut Haraway können ihnen sogar Maschinen und Pflanzen angehören. Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass sowohl bei Wenzel als auch bei Otoo und Stelling am Ende ein Baby steht, wobei die Frage ist, was das jetzt eigentlich besser machen soll, wenn sich die Zustände nicht geändert haben.
Allerdings richten sich Yaghoobifarahs »Ministerium der Träume« und Sanyals »Identitti« auf den ersten Blick ja auch an eine Stilgemeinschaft.
Nicht nur auf den ersten Blick. Sie richten sich an dieselbe Stilgemeinschaft wie Otoo oder Wenzel. Aber sie tun das auf eine intelligentere und forderndere Weise.
Zur Kategorie der Kalkülromane zählen Sie Bücher von Dietmar Dath, Angelika Meier, Anne Weber und Leif Randt. Sie eröffneten einen »Möglichkeitsraum«. Wie ist das zu verstehen?
Den Begriff habe ich von Dietmar Daths Roman »Gentzen«, den er im Untertitel »Kalkülroman« nennt. Da stellt er eine Formel auf, die besagt, dass man die eine Welt nur als Möglichkeit unter vielen betrachten soll. Das war etwas, was ich mir früher schon bei parahistorischen Erzählungen wie »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten« von Christian Kracht gedacht habe.
»Mein Eindruck ist, dass in der heutigen Popkultur Fragen der Lebensführung besonders wichtig sind, weshalb sich ethische Fragen in einem ständigen Konglomerat mit ästhetischen Wahlentscheidungen befinden.«
Alternativweltgeschichten behaupten ja nicht, dass die Geschichte anders war und dass sie Wirklichkeit erklären könnten, sondern sie befreien uns davon, dass die Geschichte so war, wie sie war, und werten das, was geschehen ist, als bloß eine Möglichkeit unter anderen. So hebeln sie den Realismus aus, aber nicht in dem Sinne, wie das vielleicht der Populäre Realismus mit seinen Wohlfühlwelten macht, sondern hier wird diskursiv ein Thema bearbeitet, wie zum Beispiel bei Anne Weber die Frage, wie politisches Handeln möglich ist.
Ich habe an Hans Blumenbergs intersubjektiven Wirklichkeitsbegriff des modernen Romans denken müssen, der das Scheitern von literarischen Formen zum Thema hat. Auf der Textebene würde das an Stilmitteln wie dem gescheiterten Dialog, der abgebrochenen Erzählung, dem nichtssagenden Geschwätz oder an einer Scheingenauigkeit anschaulich werden.
Ja, so etwas könnte auch damit gemeint sein. Das finde ich eine schöne Idee. Das ist aber sicher nicht die einzige Möglichkeit, wie man das zu fassen hat, denn das Gelingen kann durchaus Teil des Kalkülromans sein, und andersrum: Der gescheiterte Dialog kann selbst wieder erwartbar werden. Aber wenn die Kommunikation so scheitert, dass sie die bestehenden Formen entnaturalisiert und ihnen etwas an die Seite stellt, dann hat man etwas, das nach vorne geht. Da könnte man auch das Tentakuläre Erzählen mit hineinnehmen. »Möglichkeit« heißt ja auch immer, dass ich noch nicht weiß, was sein wird oder wo es hingeht. Daths Roman »Gentzen« zum Beispiel kippt am Ende in eine sci-fi-mäßige, vieldimensionale Wirklichkeit.
Sie sprechen Kalkülromanen zu, einen »demokratischen« und »marktwirtschaftlichen« Möglichkeitssinn zu entfalten.
»Marktwirtschaftlich« würde Dietmar Dath natürlich hassen. Ich teile aber nicht die Überzeugung, dass erst einmal der Kapitalismus weg muss und dann alles besser wird. Der Markt stellt ja überhaupt erst diese Möglichkeitsräume her und produziert einen gewissen Überschuss und Reichtum – der dann auch wieder problematische Seiten hat. Die Frage ist, wie man damit umgeht und wie man das vermittelt. Ich bin kein Adornit in dem Sinne, dass ich sagen würde, Marktstrukturen bringen immer nur das Falsche oder das Gleiche hervor, sondern ich sage: Innerhalb der Variationen, die die Marktstrukturen hervorbringen, müssen wir uns die richtigen raussuchen und auch in der Lage sein, diese zu erkennen. Und so auch in der Literatur.
Moritz Baßler: Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens. C. H. Beck, München 2023, 408 Seiten, 24 Euro