Mulki Makmun und Dodi Yuniar, Menschenrechtler, im Gespräch über die Lage in ­Indonesien vor den Wahlen

»Keiner der Kandidaten hat eine reine Weste«

In Indonesien stehen am 14. Februar die erste Runde der Präsident­schafts­wahl sowie die Parlamentswahlen auf nationaler und regionaler Ebene an. Die »Jungle World« sprach mit Mulki Makmun und Dodi Yuniar von der NGO Asia Justice and Right (Ajar) über die Menschen­rechtslage im Land und die weiteren Perspektiven.
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Indonesien steht kurz vor den Wahlen. Wie würden Sie generell die derzeitige Menschenrechtslage im Land bewerten?
Mulki Makmun: Die Situation ist durchaus angespannt, und was die drei Paare für die Bewerbung für das Präsidenten- und Vizepräsidentenamt betrifft, so bleibt festzustellen, dass sie alle in Sachen Respekt für Menschenrechte keine weiße Weste haben. Der laut Umfragen als Favorit dastehende bisherige Verteidigungsminister Prabowo Subianto ist aber sicher der mit Abstand am stärksten belastete Kandidat, wenn man sich seine Vorgeschichte als General ansieht.

… und vor allem als Kommandeur der berüchtigten Spezialeinheit ­Kopassus.
MM: Genau. Wir verfolgen überdies sehr aufmerksam, was die Bewerber in den öffentlichen Debatten zu diesem Themenfeld sagen. Doch die kritische Zivilgesellschaft hat schon Vorkehrungen getroffen, sie ist sich bewusst, dass der nächste Präsident, wer immer es am Ende sein wird, das Thema Menschenrechte nicht gerade zu einer seiner Hauptaufgaben machen wird. Positiv zu bewerten ist aber zumindest das präsidiale Dekret vom vergangenen Jahr, mit dem den Opfern von zwölf von der Regierung nun offiziell anerkannten Menschenrechtsverbrechen durch Kompensation und Hilfe noch so etwas wie späte Gerechtigkeit widerfahren soll.

Das betraf unter anderem die Massaker unter dem Diktator Suharto gegen Mitglieder und Umfeld der Kommunistischen Partei Indonesiens Mitte der sechziger Jahre, den Krieg in Aceh und die Schüsse auf protestierende Studenten 1998, oder?
MM: Ja. Viele der Betroffenen sind schon alt, für diese Menschen ist das die letzte Chance auf eine gewisse Entschädigung. Wir stellen aber auch regional weiter viele Konflikte fest, insbesondere in Papua. Und es kommt generell wieder häufiger vor, dass Aktivisten gewaltsam angegriffen werden, zum Beispiel bei Auseinandersetzungen um Landrechte. Festzustellen ist leider auch, dass es bei der Versammlungs- und Meinungsfreiheit Rückschritte gegeben hat.
Dodi Yuniar: Als kleines Hoffnungszeichen inmitten dieser Verschlechterungen gab es aber kürzlich die juristische Niederlage für einen Minister, der im Streit über Bergbauprojekte auf Papua und seine Verwicklung darin zwei Menschenrechtler wegen Diffamierung verklagt hatte. Das ist vom Tisch – und als erster Sieg vor einem Gericht in solch einem Fall ein wichtiges Signal für die Zivilgesellschaft.

Der scheidende Präsident Joko ­Widodo begann als Reformer, der unter anderem auch die Verantwortlichkeit staatlicher Institutionen verbessern wollte. Wie ist die ­Bilanz seiner zehn Jahre im Amt, hat es Fortschritte gegeben?
DY: Insgesamt nicht, eher im Gegenteil. Besonders fragwürdig war, was in seiner zweiten Amtszeit zunahm – dass er hochrangige Militärs an Schaltstellen des Staats zurückgebracht hat. Es war eine große Errungenschaft der Zeit nach dem Sturz der Suharto-Diktatur 1998, dass wir Militär und Ziviles klar getrennt hatten. Neuerdings wird aber das Militärische wieder verstärkt in die Politik getragen und dürfen sogar aktive Gene­räle bestimmte hochrangige Positionen in zivilen staatlichen Institutionen ­halten.
Zudem hat der scheidende Präsident das Militär eingespannt, um gegen ­Kritiker vorzugehen. Es gibt sogar schon einige, die so weit gehen zu sagen, wir befänden uns in manchen Punkten auf dem Weg zu einer Neuauflage der Suharto-Ära.

Läuft das schon länger?
DY: Es war etwa 2018 bis 2019, dass ­Widodo spürbar begonnen hat, seine Orientierung zu ändern, die Seite wechselte. Er stand damals ziemlich unter Druck und hat sich mit dem Militär verbündet, um sich selbst zu retten. Mit der Zeit wurde es dann immer schlimmer. Und einige Gesetze, die Kritik unterbinden sollen, werden weit über seine Amtszeit hinaus traurige Wirkung entfalten.
Indonesien ist ein multikulturelles und multireligiöses Land. Wie sieht es mit den Minderheiten aus?
MM: Was die generelle Religionsfreiheit im Land angeht, hat sich unter ­Widodo wenig verändert. Man gibt ja bei uns seinen Glauben in den Ausweispapieren amtlich an – oder kann es auch unterlassen. In jüngerer Vergangenheit haben das Wirken und die Zahl erzkonservativer und radikaler Gruppen deutlich zugenommen. Das ist ein sehr gefährlicher Trend, und die Regierung geht bislang nicht genügend gegen diese Tendenzen vor. Auch bei der jetzt anstehenden Wahl spielen ja manche Kandidaten sehr bewusst die religiöse Karte.

»Besonders fragwürdig war, was in Präsident Widodos zweiter Amtszeit zunahm – dass er hochrangige Militärs an Schaltstellen des Staats zurückgebracht hat.« Dodi Yuniar

Vor allem aber stehen Indigene inzwischen unter deutlich erhöhtem Druck. Insbesondere Landrechtskonflikte in ihren Gebieten haben in den vergangenen Jahren spürbar zugenommen. Sexuelle Minderheiten wiederum werden teilweise in dem Maße stärker attackiert, wie sie tatsächlich öffentlich in Erscheinung treten.
DY: Die Zahl der Gerichtsprozesse, die gegen Angehörige von Minderheiten angestrengt wurden, hat über die vergangenen fünf bis sechs Jahre eher ­abgenommen. Angriffe haben sich eher auf andere Bereiche wie land grabbing verlagert. Das betrifft nicht nur altbekannte Konfliktgebiete wie Papua. Auch in anderen Regionen werden lokale ­Aktivisten angegriffen, weil Firmen es auf Land abgesehen haben. Und dazu gehören nicht zuletzt Enteig­nungen und Vertreibungen im Zuge der Arbeiten an der neuen Hauptstadt ­Nusantara (Jungle World 12/2022, Anm. d. Red.) – da kommt es auf Kalimantan (dem indonesischen Teil Borneos, Anm. T. B.) ­gerade zu einigen Menschenrechtsverletzungen. Die gibt es auch in Zentral-Sulawesi, einem Hotspot des Antiterrorkampfs des Staats gegen radikale ­lokale Gruppen, die zu den Netzwerken von al-Qaida und dem »Islamischen Staat« gehören. Das Antiterrorgesetz gibt dem Militär ja diverse Sonderrechte.

Indonesien ist ein sehr ausgedehnter Inselstaat, zwischen den Provinzen gibt es große Unterschiede. Welche Gebiete sind, was Menschenrechte angeht, die größten Pro­blemfälle?
MM: Papua ist ganz eindeutig der Schwerpunkt. Da sind wir von Frieden noch immer weit entfernt. Die vor­mals zwei Provinzen wurden ja unlängst in sechs aufgeteilt. Und die Militari­sierung schreitet dort stetig voran. Die Meinungsfreiheit ist stark eingeschränkt. Und es gibt eine riesige Welle von neuen Siedlern aus Westindonesien, mit denen Papua regelrecht überschwemmt wird. Dagegen wehren sich die Menschen an Ort und Stelle. 2019 gab es den jüngsten großen Aufstand, der sich gegen die fortschreitende Einschränkung von Rechten und Freiheiten richtete. Gerade die junge Generation geht verstärkt in den Widerstand. Und der Staat antwortet beispielsweise mit längerer Abschaltung des Internets und lässt auch keine ausländischen Journalisten und Berichterstatter mehr dorthin.
Zu Aceh, dem nach einem langen separatistischen Konflikt seit knapp 20 Jahren autonom regierten Gebiet an der Nordwestspitze Sumatras, gibt es einen aktuellen Bericht. Was besagt er?
DY: Den hat die Wahrheits- und Versöhnungskommission nach der Auswertung von rund 4 900 Zeugenaussagen erstellt. Extralegale Tötungen, Verschwindenlassen, sexuelle Gewalt und Folter waren die wichtigsten Verbrechen gegen die Menschenrechte, die in den Jahren des gewaltsamen Konflikts vor allem von staatlicher Seite begangen wurden. Das Militär hat sich da vieles zuschulden kommen lassen.
MM: Der Report hat auch vieles zum Vorschein gebracht, was bisher wenig bekannt war, zum Beispiel betreffs Folter und sexueller Gewalt auch gegen Männer. Es gibt bereits Druck der Zivilgesellschaft und auch Vorschläge des Regionalparlaments, dass diese dezidierte Aufarbeitung, die bisher nur auf Indonesisch vorliegt, nun zügig auch in englischer Fassung erscheinen soll.
Wir bei Ajar glauben ebenfalls, dass dieser Report viel positiven Einfluss darauf haben kann, wie unsere Gesellschaft in Zukunft mit solchen Konflikten umgeht. Die Einsetzung der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Aceh war in dem Friedensabkommen vom November 2005 vereinbart worden. Und es ist der vielleicht einzige Fall weltweit, dass es so eine Institution sogar dauerhaft gibt, nicht nur mit ­einem Mandat für eine begrenzte Zeit.
DY: Die nationalen Medien sind derzeit vor allem mit dem Wahlkampf beschäftigt. Wir hoffen, dass der Bericht danach noch mehr Aufmerksamkeit finden wird. Zudem soll es in fünf Jahren den nächsten Report zu Aceh ­geben.

Es gibt trotz vieler Probleme und Rückschritte also weiterhin Hoffnung?
MM: Ohne die ginge es gar nicht. Es gibt Fälle, in denen sich einzelne Gruppen juristisch mit Erfolg für ihre Rechte einsetzen. Und einige Regionen, in denen es besser läuft und es lokal auch schon Entschuldigungen für frühere Menschenrechtsvergehen gab. Zudem schauen wir mit Hoffnung darauf, dass die Aufmerksamkeit hinsichtlich des Papua-Konflikts zunimmt.
DY: Es existieren inzwischen auch viele Initiativen der Zivilgesellschaft, die ­Opfern von Menschenrechtsverbrechen eine Stimme geben.

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Mulki Makmun hat einen Abschluss in Kriminalistik der University of Indonesia. 2014 bis 2016 arbeitete er als Junior Researcher für die Commission for Disapppeared and Victims of Violence (Kontras) und wirkte an Berichten über Folter, die Todesstrafe, ein umstrittenes Antiterrorgesetz und Landrechtskämpfe mit. Seit 2017 ist er als Programm-Manager für die NGO Asia Justice and Rights (Ajar) tätig, mit dem Schwerpunkt Menschenrechtsverletzungen. Unter anderem ist er daran beteiligt, einst im Osttimor-Konflikt verschleppte Kinder mit ihren Familien wiederzuvereinigen.

Dodi Yuniar ist Kommunikationsspezialist und Community Educator. Er arbeitet als Learning, Communications and Development Manager für Ajar. Sein Schwerpunkt liegt in partizipativen Forschungsansätzen, um Opfern von Menschenrechtsverletzungen zu ihrem Recht zu verhelfen. Vor seiner jetzigen Arbeit bei Ajar war er unter anderem Chefredakteur für Publikationen der Indonesian Society for Social Transformation (Insist) und erstellte Kurzfilme und Berichte für Osttimors Wahrheitskommission.