Der Film »Mami Wata« über ein westafrikanisches Dorf zwischen Tradition und Moderne

Phantasievolle Parabel

Im nigerianischen Film »Mami Wata« steht ein matriarchal regiertes Dorf vor einer Zerreißprobe. Lässt man die Tradition und den Glauben an Naturgötter für die Moderne sausen?

Wird der nigerianischen Filmindustrie, immerhin nach dem indischen »Bollywood« und noch vor Hollywood die zweitgrößte der Welt, außerhalb Afrikas Aufmerksamkeit geschenkt, dann oft ausschließlich für billig und in Massen produzierte Filme, die ohne großen Aufwand innerhalb weniger Wochen in Hinterhöfen oder gleich auf den Straßen nigerianischer Großstädte gedreht wurden.

Die unter dem Namen »Nollywood« bekannte Filmbranche produzierte in ihrer Anfangsphase von 1992 bis 2005 mindestens 7.000 solcher Filme. Während diese in ihrer generischen Form bald als »Wegwerffilme« angesehenen Produktionen zu Beginn wenig Beachtung fanden, sind sie mittlerweile zum filmischen Aushängeschild Nigerias geworden. Ihre Beliebtheit verdanken sie vor allem einem aufgeschlossenen Publikum in Afrika, das Filme aus seinem eigenen Kontinent sehen möchte. Der Produktionsstandard hat sich über die Jahre professionalisiert, der Ausstoß ist mit jährlich über 2.500 Filmen aber nach wie vor immens.

Die Relevanz der dortigen Filmproduktion sollte man weder unterschlagen noch unterschätzen. Das beweist nicht zuletzt der Erfolg des Rachethrillers »The Black Book« von Editi Effiong, der im September vergangenen Jahres auf Netflix erschien und mit weltweit über 20 Millionen Aufrufen Platz drei der inoffiziellen globalen Netflix-Charts erreichte. Das Budget von einer Million US-Dollar mag für internationale Verhältnisse bescheiden wirken, macht den Film jedoch zur bisher teuersten Produktion Nigerias.

Die stark von archaischen Traditionen geprägte Lebensweise ruft immer mehr Spannungen im Dorf hervor.

Neben den Low-Budget-Filmen und Blockbustern wie »The Black Book« sorgte das das nigerianische Kino jüngst auch mit einer weiteren Filmsparte für internationales Aufsehen: dem anspruchsvollen Arthouse-Kino. So feierte der Film »Mami Wata« von C. J. Obasi 2023 als erster nigerianischer Film seine Uraufführung auf dem renommierten Sundance Film Festival im US-amerikanischen Park City (Utah) und gewann dort den Special Jury Award für seine herausragende Kameraarbeit. Eine umfangreiche Tour zu internationalen Filmfestivals folgte. Zudem war er Nigerias Einreichung als bester internationaler Film bei den 96. Academy Awards, schaffte es aber nicht in die engere Auswahl. Dem erst 2021 gegründeten Filmverleih Cinemalovers ist es zu verdanken, dass der Film nun auch in den deutschen Kinos zu sehen ist.

Mama Efe (r.) und ihre Töchter Zinwe (Uzoamaka Aniunoh) und Prisca (Evelyne Ily Juhen)

Matriarchat in Gefahr. Mama Efe (r.) und ihre Töchter Zinwe (Uzoamaka Aniunoh) und Prisca (Evelyne Ily Juhen)

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Cinemalovers

Angelegt als phantasievolle Parabel erzählt der Film vom fiktiven westafrikanischen Dorf Iyi, in dem die Wassergottheit Mami Wata verehrt wird. Mama Efe (Rita Edochie), einflussreiches Oberhaupt des matriarchal geprägten Dorfs, fungiert als Vermittlerin zwischen der Gottheit und dem irdischen Leben. Sie regiert über die Einwohner, löst Konflikte und heilt nicht zuletzt Menschen von Krankheiten. Dafür müssen ihre Untertanen einen Teil der Ernte an sie entrichten.

Diese stark von archaischen Traditionen geprägte Lebensweise ruft immer mehr Spannungen im Dorf hervor. So erzählen sich die Menschen, dass es in anderen Dörfern Impfungen gegen Viren gebe, sogar Schulen, Krankenhäuser und einen Stromanschluss hätten sie. An einer Stelle heißt es: »Gebete können die Zukunft nicht verändern.« Als auch noch ein krankes Kind trotz Mama Efes Heilversuchen stirbt, verliert diese endgültig ihre Legitimität. Auch ihre leibliche Tochter Zinwe (Uzoamaka Aniunoh) kehrt ihr allmählich den Rücken zu, während Zinwes Adoptivschwester Prisca (Evelyne Ily Juhen) an der Loyalität zu ihrer Mutter festhält.

Obasi verhandelt hier geschickt das Aufeinanderprallen von althergebrachten Glaubenssystemen und dem unaufhaltsamen Vormarsch dessen, was gemeinhin als Moderne bezeichnet wird. Dem Schamanentum einer Mama Efe steht die empirische Wissenschaft gegenüber, die mit medizinischen Erkenntnissen und überlegener Technik die altertümlichen Lebensweisen allmählich verdrängt. Der Film verzichtet dabei angenehmerweise auf einen postkolonialen Klageton. Der Dualismus zwischen Tradition und Aufbruch, Unterdrückung und Freiheit wird vielmehr als innerafrikanischer Konflikt erzählt.

Still aus »Mami Wata«

Still aus »Mami Wata«

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Cinemalovers

Im Laufe des Films wird Jasper (Emeka Amakeze), der aus einem nicht näher benannten Bürgerkrieg desertiert ist, nach einem Schiffbruch an die Küste von Iyi gespült. Nachdem er sich das Vertrauen der Dorfbewohner erschlichen und sie mit den Verheißungen eines modernen Staatswesens auf seine Seite gezogen hat, nutzt er den Legitimitätsverlust vom Mama Efe aus, um eine Revolte anzuzetteln, aus der er letztlich als neuer Herrscher hervorgeht.

Aus dem friedvollen Matriarchat entsteht ein tyrannisches Patriarchat. Nur an einer Stelle wird der desaströse Einfluss des Westens gezeigt. Denn erst mit den Gewehren, die ein weißer Waffenhändler liefert, kann der Aufstand mit äußerster Gewalt vollzogen werden. C. J. Obasi lässt dabei die Erzählperspektive zwischen den beiden Töchtern von Mama Efe wechseln. Steht zu Beginn des Films ­Zinwe im Mittelpunkt der Erzählung, rückt bald Prisca ins Zentrum, die ­einen dritten Weg zwischen überholten Traditionen und gewaltvoller Unterdrückung finden muss.

Der Film verzichtet angenehmerweise auf einen postkolonialen Klageton. Der Dualismus zwischen Tradition und Aufbruch, Unterdrückung und Freiheit wird vielmehr als innerafrikanischer Konflikt erzählt.

Was den Film neben der faszinierenden und im westafrikanischen Pidgin erzählten Geschichte so sehenswert macht, ist zweifellos die umwerfende Fotografie der brasilianischen Kamerafrau Lílis Soares im Zusammenspiel mit dem Kostüm- und Maskenbild. »Mami Wata« ist komplett in Schwarzweiß gehalten, wobei die meisten Aufnahmen nachts gedreht wurden und dadurch stark unterbelichtet sind. Den Kontrast zum satten Schwarz erzeugen die Verzierungen auf den Gesichtern der Dorfbewohner von Iyi. Die weißen Muster aus Punkten, Linien und Kreisen leuchten förmlich im Dunkel der Nacht.

Verstärkt wird der Effekt durch weißen Muschelschmuck um den Hals oder in den Haaren und durch gemusterte Kleider, wie sie in vielen afrikanischen Ländern getragen werden. Das Ergebnis ist eine traum­gleiche, fast schon tranceartige Atmosphäre, die einen völlig in den Bann zieht.

Wassergöttin. Im Dorf wird Mami Wata verehrt

Wassergöttin. Im Dorf wird Mami Wata verehrt

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Cinemalovers

»Mami Wata« mag zwar eine in ­Afrika tiefverwurzelte Mythologie aufgreifen – die gleichnamige Gottheit wird in West-, Zentral- und im südlichen Afrika verehrt –, doch Obasi stieß eigenen Erzählungen zu­folge auf heftigen Widerstand, als er mit der Entwicklung des Films begann. »Wir hatten verrückte, fast ­gewalttätige Reaktionen von Leuten, als wir erwähnten, dass wir einen Film über Mami Wata drehten. Viele Leute versuchten, uns auf eine schwarze Liste zu setzen«, erzählte er dem Branchenblatt Indiewire in einem Interview. Während der Norden Nigerias stark vom Islam und der ­Süden vom Christentum geprägt ist, spielt der traditionelle Glaube so gut wie keine Rolle mehr. Vieles, was früher die Kerntradition und den Kernglauben der Menschen ausmachte, werde heutzutage verteufelt, so Obasi.

Die starke Ablehnung, die dem Film entgegenschlug, spiegelt sich auch in der Kinoauswertung wider. Während »Mami Wata« international große Anerkennung zuteil wurde, scheint der Film in Nigeria größtenteils ignoriert worden zu sein. Einem Bericht der nigerianischen Journa­listin Torinmo Salau für den katarischen Fernsehsender al-Jazeera zufolge lief der Film nach seinem Kinostart am 8. September nur zwei ­Wochen in den Kinos – und dort auch nur zu unsäglichen Uhrzeiten am Vormittag und Mittag. Als Grund werden fehlendes Marketing und die große Dominanz kommerzieller Filme genannt. Möge dem Film im Rest der Welt mehr Erfolg beschieden sein.

Mami Wata (NGA/FR/UK 2023). Buch und Regie: C. J. Obasi. Darsteller: Evelyne Ily ­Juhen, Uzoamaka Aniunoh, Rita Edochie, Emeka Amakeze.