Wohnungsbesitzer haben viele Möglichkeiten, Eigenbedarf anzumelden

Die Freiheit des Eigentümers

Der Besitzer einer Wohnung kann seine Mieter meist problemlos rausschmeißen, indem er Eigenbedarf anmeldet. Die Rechtslage macht es leicht, dabei zu betrügen.

Zehntausende Menschen verlieren jedes Jahr ihr Zuhause, weil sie die Miete nicht bezahlen können. Etwa 30.000 Wohnungen wurden 2022 zwangsgeräumt, meistens wegen Mietschulden. Doch auch wer stets pünktlich zahlt und sich an den Mietvertrag hält, kann seine Wohnung verlieren. Eigentümer haben nämlich das Recht, Mieter rauszuwerfen, wenn sie die Wohnung für sich selbst oder für Angehörige beanspruchen.

Der Eigenbedarf ist dem Deutschen Mieterbund zufolge derzeit der häufigste Grund für die Kündigung eines Mietvertrags. »Bei vielen Fällen vermuten wir, dass der Eigenbedarf nur vorgeschoben ist, um den Wohnraum leer zu verkaufen oder teurer zu vermieten«, sagt der Berliner Mietrechtsexperte Benjamin Raabe der Jungle World. Die Rechtslage und -praxis mache dies Vermietern oft leicht. So kann ein Vermieter sogar für seinen Neffen noch Eigenbedarf anmelden.

Wenn ein Mieter der Ansicht ist, dass der Eigenbedarf nur vorgeschoben sei, kann er vor Gericht ziehen, doch dort stehen seine Chancen oft schlecht. Dem Vermieter fällt es vor Gericht meistens leicht, den Eigenbedarf zu begründen, denn dieser gilt sogar für einen Zweitwohnsitz. Der Chefarzt aus Hannover kann eine Wohnung in Kreuzberg kaufen und sie für sich beanspruchen, indem er behauptet, er wolle ab und zu das Wochenende in Berlin verbringen. »Da sagt letztendlich die Rechtsprechung: Ich darf den Wunsch des Vermieters, wie er die Wohnung nutzen möchte, nicht bewerten«, erklärt Raabe.

»Bei vielen Fällen vermuten wir, dass der Eigenbedarf nur vorgeschoben ist, um den Wohnraum leer zu verkaufen oder teurer zu vermieten.« Benjamin Raabe, Rechtsanwalt und Experte für Mietrecht

Wenn der Mieter rausfliegt und dann die Bedarfsperson doch nicht einzieht, kann der Vermieter die Wohnung direkt teurer weitervermieten. Die ehemaligen Mieter können dann zwar immer noch beim Zivilgericht auf Schadensersatz oder wegen Betrugs vor dem Strafgericht klagen, haben dabei jedoch noch schlechtere Karten. Zwar ist vorgetäuschter Eigenbedarf strafbar – doch behaupten, sein Neffe habe es sich eben anders überlegt, kann der Vermieter immer noch.

Daher sei es schwierig, den vorgetäuschten Eigenbedarf vor Gericht etwa als Betrug zu beweisen, sagte Sven Kersten, Richter am Amtsgericht Tiergarten, kürzlich bei einer Veranstaltung des Netzwerks Mieten & Wohnen. Vermieter müssten äußerst selten überhaupt eine Anzeige fürchten: »Ich kenne aus meiner Praxis überhaupt keinen Fall«, gab Kersten zu.

Eigenbedarf können nur Privatpersonen anmelden, doch auch wenn ein Unternehmen die Wohnung vermietet, kann sich der Mieter nie ganz sicher sein. Das zeigt der Fall von Patrick Reinecke. Vor einigen Jahren flatterten Briefe in jede Wohnung in seinem ehemaligen Mietshaus in Berlin-Friedrichshain. Darin hieß es, das Unternehmen, dem das Haus gehörte, wolle die Wohnungen einzeln verkaufen.

Für jede Wohnung ein neuer Eigentümer – Reinecke und seine Hausgenossen sorgten sich sogleich wegen möglicher Eigenbedarfskündigungen und gingen zu ihrem Mieterverein. »Die haben dann gesagt: Arg viel, außer den Rausschmiss rauszögern, können wir nicht machen«, berichtet Reinecke der Jungle World.

Noch schien aber nichts verloren, schließlich musste das Unternehmen ja erst mal Käufer für die Wohnungen finden. So beschlossen die Mieter bei jeder Wohnungsbesichtigung in der nächsthöheren Etage emsig zu saugen, damit die Interessenten hörten, wie dünn die Wände im alten Bau sind. Reinecke sprach die Kaufinteressenten bei der Besichtigung seiner Wohnung sogar direkt an: »Ich habe denen immer gesagt, das ist mein Zuhause, ich bin hier in meinem Kiez stark verwurzelt und ich möchte hier nicht weg.«

So sprangen elf der Interessenten von dem Kauf ab. »Bei dem Zwölften habe ich direkt gemerkt, dass er anders ist«, sagt Reinecke. Nachdem dieser die Wohnung gekauft hatte, ließ die Kündigung wegen Eigenbedarfs nicht lange auf sich warten. Doch Reinecke hatte vor­ausschauend eine Rechtsschutzversicherung abgeschlossen und bekam von der Versicherung einen Anwalt gestellt. Mit dessen Hilfe konnte er den Rausschmiss um mehrere Jahre verzögern.

Diese Zeit hat er aber als eine des ständigen Stresses in Erinnerung. Er konnte nie sicher sein, wie lange die juristische Verzögerungstaktik noch funktionieren würde. Zudem verdiente er damals wenig Geld. So fürchtete er den Gedanken, bald aus seiner Wohnung fliegen zu können und auf dem harten Berliner Wohnungsmarkt etwas Neues suchen zu müssen. Als er durch Glück nach einigen Jahren in der Nähe eine bezahlbare Wohnung fand, einigte er sich mit dem Vermieter auf eine Abfindung und zog aus. Bis heute kann Reinecke die Sorge nicht loswerden, auch seine neue Wohnung bald wieder zu verlieren. Auf dem Klingelschild seiner ehemaligen Wohnung steht derweil ein neuer Name – der des Käufers ist es nicht.

Verlieren müssen die Betroffenen aber nicht immer, wie der Mietrechtsexperte und Rechtsanwalt Benjamin Raabe aus seiner Berufspraxis weiß. Wenn der Eigentümer der Wohnung wechselt, sollten Betroffene wie Reinecke möglichst schnell eine Mietrechtsversicherung abschließen oder einem Mieterverein beitreten. Denn dort gibt es oft Wartezeiten, so dass es dauern kann, bis die Rechtsschutzversicherung in Kraft tritt – wenn die Kündigung bereits im Briefkasten liegt, ist es zu spät.

Wenn die Kündigung da ist, sollte man sich umgehend darüber informieren, wie man am besten mit der Situation umgeht. Raabe hat noch einen Tipp: »Recherchieren Sie möglichst viel über die Bedarfsperson, und zwar so früh, dass der Kündigende kein Verdacht schöpft.« Falls der Eigenbedarf vorgetäuscht ist, könnten Mieter im Gerichtsverfahren dann auf Unstimmigkeiten in der Geschichte des Vermieters verweisen. Auch sollte der Mieter prüfen, ob nicht womöglich ein Härtefall vorliegt, der einen Widerspruch ermöglicht: Eine Seniorin im Rollstuhl oder ein Student ­mit Depressionen müssen ihre Wohnung nicht zwangsläufig räumen. »Das wird meistens durch einen Sachverständigen begutachtet«, sagt Raabe: »Das verlängert den Prozess natürlich erheblich.«

Doch meistens ist Eigenbedarf für Vermieter eine einfache Angelegenheit – und selbst wenn sie ihn vortäuschen, um unliebsame Mieter loszuwerden, haben sie oft keine rechtlichen Konsequenzen zu fürchten.

Einige Reformideen zielen darauf ab, Gewinn aus vorgetäuschtem Eigenbedarf zu erschweren. »Wohnungen kaufen, um die Mieter wieder rauszuschmeißen – das wollen wir nicht mehr haben«, sagt Mietrechtsexperte Raabe.

Im Netzwerk Mieten & Wohnen diskutiert ein Fachkreis aus Anwälten und Richtern, wie die Gesetzeslage reformiert werden könnte. Ihnen genügt die Härtefallregelung nicht. Vielmehr solle der Bedarf beider Parteien grundsätzlich abgewogen werden, so dass zum Beispiel ein junger Unternehmer eine alleinstehende Rentnerin nicht einfach aus ihrer Wohnung werfen darf. Auch solle der Bedarfsfall des Vermieters sich nicht mehr bis zum Neffen und Enkel erstrecken, sondern auf Eltern und Kinder begrenzt werden.

Andere Reformideen zielen darauf ab, Gewinn aus vorgetäuschtem Eigenbedarf zu erschweren. »Wohnungen kaufen, um die Mieter wieder rauszuschmeißen – das wollen wir nicht mehr haben«, sagt Raabe. Wenn die Tochter des Vermieters doch nicht in seine Wohnung einzieht und der Eigenbedarf sich damit nicht erfüllt, sollen andere Regeln gelten: »Sie dürfen in dem Fall natürlich ihr Eigentum weiter nutzen, es aber nur zum gleichen Preis erneut vermieten«, sagt Raabe. Und: »Sie können es auch verkaufen, aber nur, als wäre es eben vermietet.« Die Wohnung dürfte also nicht leer verkauft werden. Alles, was dagegen verstößt, könnte als Ordnungswidrigkeit mit Bußgeldern geahndet werden.

Raabe erwartet jedoch kaum, dass solche Reformen von der derzeitigen Bundesregierung beschlossen werden. Bei SPD und Grünen stießen die Ideen vielleicht auf Resonanz, glaubt Raabe, doch bei der FDP – die das Bundesjustizministerium besetzt – macht er sich wenig Hoffnung. Der nächste Schritt sei daher, die Forderungen mit Mietervereinen, Wohlfahrtsverbänden und Gewerkschaften zu diskutieren. Doch auch mit deren Unterstützung kann es Raabe zufolge knifflig werden, sich gegen Vermieter-Lobbyorganisationen wie »Haus und Grund« zu behaupten.