Das Massaker vom 7. Oktober und die Strategie des iranischen Regimes gegen Israel

Der 7. Oktober und die iranische Politik

Auf seiner Website skizziert der iranische Oberste Führer Ali Khamenei eine Strategie, wie die proiranischen Milizen, die er als »internationale Widerstandskerne« bezeichnet, Israel in die Knie zwingen sollen.

Unverhohlen hat das iranische Regime das Massaker der Hamas vom 7. Oktober begrüßt. In einer ersten Reaktion verlautbarte der Oberste Führer Ali Khamenei, der Iran habe von dem Überfall nichts gewusst, aber er küsse die Hände dieser Helden. Staatspräsident Ebrahim Raisi pries das Vorgehen der Hamas als innovativ. Beide Äußerungen kennzeichnen das System dieser Diktatur auf ihre Weise.

Khamenei ist ja nicht nur Oberster Führer, er ist dies wegen seiner Eigenschaft als Religionsführer. Er hat ein Pogrom abgesegnet und für diesen Segen eine Formulierung gewählt, die eine zärtliche, emotionale Geste für sadistische Grausamkeiten darstellt. Nach allgemeinem, freilich wohlwollendem Religionsverständnis war das eine obszöne, blasphemische Äußerung, ein Dementi der zivilisatorischen Errungenschaften von Religionen. Er küsst die Hände derer, die tags zuvor mordeten, vergewaltigten und plünderten.

Damit wird der schiitische Islam zur Legitimierung schreienden Unrechts missbraucht. Wird dieser Satz andere schiitische Geistliche und Gelehrte auf den Plan rufen, im Irak, im Libanon, vielleicht sogar im Iran selbst? Auch das Zentrum der sunnitischen Geistlichkeit rund um die Kairoer al-Azhar-Universität müsste eigentlich Stellung nehmen: Wollen sie das so stehenlassen? Ist es das, was die islamische Ummah der Welt mitteilen will, indem sie zur Hamas beharrlich schweigt?

Khamenei zufolge strebt der Iran einen Zermürbungskrieg seiner Stellvertreter gegen Israel an, in den er aber nicht mit eigenen Kriegshandlungen eingreifen will.

Hingegen hat Präsident Raisi mit seiner Ansage die iranische Politik erkennen lassen. Zunächst ist ihm direkt zu widersprechen: Das Vorgehen der Hamas war nicht innovativ. Es war schon eher altbewährt. Was Raisi mit seiner Äußerung meint, ist, dass er die Methoden der Hamas als Muster für künftige terroristische Aktionen ansieht: überraschender Angriff, beispiellose Grausamkeit, Geiselnahme. Diese Lesart wird durch Khameneis offizielle Website bestätigt.

Vom Internetauftritt des Obersten Führers gibt es auch eine Fassung auf Englisch. Zunächst fällt auf, dass er vom Nahen und Mittleren Osten als »Westasien« spricht. Offenbar hat die bei ihm häufig anzutreffende Formulierung eine besondere Bedeutung. Sie scheint ein bewusster Eingriff in die Geographie zu sein, ähnlich der neuen Lehrmeinung, welche die Ukraine als ­Mitte von Europa bezeichnet. »Westasien« bedeutet, den Iran als Teil einer kontinentalen Gemeinschaft mit Russland und China zu verstehen. Das schon vorhandene Zweckbündnis wird deutlich überhöht.

Khameneis Website hat hauptsächlich die Funktion, seine Reden wiederzugeben, die er zu feierlichen Anlässen hält. Dazwischen verfassen Assistenzschreiber Erläuterungen und Exegesen – dieser Satz sei so zu verstehen, jener besonders wichtig, und dann habe der Führer auch noch etwas tief Empfundenes gesagt. Die Überschriften der Einträge lauten beispielsweise: »Der endgültige Sieg Palästinas ist nahe«, »Die Beseitigung des zionistischen Regimes durch ein Referendum, begleitet von Widerstand«, »Die Entamerikanisierung hat begonnen«, »Der Gaza-Effekt«, »Warum Frauen im Westen immer noch zweitrangig sind«.

Jungen und auch älteren Leuten, die zurzeit unter der Parole »Free Palestine« auf die Straße gehen, wäre eine Lektüre gerade der letztgenannten Artikel zu empfehlen. Die Autor:innen versuchen, den Demonstrationen in westlichen Großstädten die Sehnsucht nach »einer muslimischen Nation im Nahen Osten« zu unterstellen (in diesem Artikel ist die Bezeichnung Westasien noch nicht angekommen). Blumige Umschreibungen werden bemüht, um eine Nähe der kapitalistischen Konsumkritik zu den angeblich wahren menschlichen Werten des islamischen Glaubens zu konstruieren.

Das Leid der Palästinenser:innen wird für einen Kult der Opferbereitschaft missbraucht, Kinder erdulden den von Hamas entfachten Krieg demnach mit leuchtenden Augen und zitieren dabei Koranverse. Fällt den Verfassern solcher Legenden überhaupt auf, wie zynisch das ist? Schon die Wortwahl zeigt es: »Gaza-Effekt« ist Effekthascherei mit menschlichem Leiden.

Vielsagend sind die Ausführungen einer Frauenforscherin über eine »verschleierte Versklavung« von Frauen in der westlichen Zivilisation. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau sei eine Fata Morgana, die Akzeptanz der Rechte der Frauen nur »scheinbar«. Denn sie falle mit der Industrialisierung in den europäischen Gesellschaften zusammen. Da habe man Frauen als Arbeitskräfte mit niedrigen Löhnen gebraucht und sie mit dem Versprechen aktiver gesellschaftlicher Teilnahme gelockt. Feministinnen hätten die Frauen aus ihren Häusern in die Fabriken gezerrt. »So wurden sie zu billigen Sklaven des kapitalistischen Systems.« Wo hat man Derartiges schon einmal gehört? Es liest sich wie ein Traktat von Altstalinisten.

Noch schlimmer habe es die sexuelle Revolution der sechziger Jahre getrieben. »Sie stellte alle Regeln und Prinzipien des traditionellen Sexualverhaltens und der Ethik in Frage und störte die natürliche Ordnung der Beziehungen zwischen Mann und Frau.« In der Praxis habe dieser Diskurs »die körperliche, sexuelle und emotionale Sklaverei von Frauen bewirkt«. Dies sagt die regimetreue Professorin eines Landes, in dem Frauen hingerichtet wurden, weil sie eine Vergewaltigung angeklagt hatten.

Frauen seien eben an Heim und Herd besser aufgehoben als in der Arbeitswelt, wo sie nur als Sexualobjekte wahrgenommen würden. Denn in den west­lichen Systemen, so heißt es mit der Sicherheit einer Sittenrichterin, »steht die Prostitution im Mittelpunkt der Identitätsfindung von Frauen«. Die iranische Frauenbewegung erwähnt sie mit keiner Silbe, für sie hat die Dozentin der Teheraner Imam-Sadiq-Universität nur ein Wortspiel parat: statt der Unterdrückung durch den Schleier der Schia die angebliche Verschleierung der Unterdrückung westlicher Frauen.

»Wir betrachten die Zerstörung des israelischen Regimes als Lösung für die palästinensische Frage.« Irans Oberster Führer Ali Khamenei

Zurück zum Obersten Führer. In zwei Reden vom 1. beziehungsweise 29. November breitet er die iranische Strategie aus, oft verbrämt mit frommen Sprüchen, aber unverblümt in der Sache. Demnach strebt der Iran einen Zermürbungskrieg seiner Stellvertreter gegen Israel an, in den er aber nicht mit eigenen Kriegshandlungen eingreifen will. Die Lösung der Palästina-Frage, die von Gott gegeben und daher nahe sei, be­stehe in folgenden Schritten:
Zuerst und am allerwichtigsten sei es, dass jene arabischen Staaten, die sich an den Abraham-Abkommen beteiligten, jede Zusammenarbeit mit Israel aufkündigen. Zum Zweiten müssten alle muslimischen Staaten Israel verurteilen und boykottieren. Die Verurteilung dürfe nicht zögerlich, unsicher oder zweideutig ausfallen, droht der Oberste Führer. Drittens müsse der »al-Aqsa-Sturm«, wie der 7. Oktober in der Diktion der Täter heißt, weitergehen. Die proiranischen Milizen alias »internationale Widerstandskerne« müssten ihre Aktionen gegen Israel energisch fortsetzen.

Viertens solle eine einzige Regierung für die Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen gebildet werden. Diese Regierung werde zu einem »Referendum zur Lösung der Palästina-Frage« unter allen Palästinensern auf der Welt aufrufen. Die Bürger Israels werden selbstverständlich nicht gefragt. Und zuletzt: Angesichts von unaufhör­lichem Terror des »al-Aqsa-Sturms« und unter dem Eindruck der Referendums­inszenierung werde sich Israel dem Willen der palästinensischen Nation beugen. Dies sei eine »demokratische Lösung« und »kein Massaker« an der Bevölkerung Israels, versichert Khamenei.

Die Scheinheiligkeit dieses Versprechens kümmert den Obersten Führer nicht, sagt er doch zugleich: »Einige meinen, dass das zionistische Regime dieser Idee nicht zustimmen wird. Diese Zustimmung muss ihm jedoch aufgezwungen werden.« Und: »Wir betrachten die Zerstörung des israelischen Regimes als Lösung für die palästinensische Frage.«

Ein weiterer Aspekt, auf den Khamenei großen Wert legt, ist die Beschwörung einer Entamerikanisierung. Alle Pläne der USA für den Nahen Osten, pardon: Westasien, seien gescheitert, und nun befänden sie sich bereits auf dem Rückzug. Antisemitismus und Antiamerikanismus verschmelzen beim Obersten Führer zu einem unauflöslichen Amalgam.

Es ist klar, dass die von Iran finanzierten und gesteuerten Milizen in dieser Strategie die Hauptrolle spielen, weil der Iran vorerst nicht direkt in die Konflikte eingreifen will. Aber was heißt das konkret? Iranische Repräsentanten betonen bei jeder Gelegenheit, sie seien von der Hamas nicht über den 7. Oktober informiert worden. Sie leugnen die vielfältige iranische Unterstützung für die Hamas und den Islamischen Jihad nicht, aber die sogenannte operative Führung liege nicht bei ihnen, sondern bei den Organisationen im Gaza-Streifen.

Solche Dementis tauchen auf der Website Khameneis so gut wie gar nicht auf. Sie stünden nämlich in einem deutlichen Widerspruch zu den umfänglichen Darstellungen, die Hassan Nasrallah, Führer der libanesischen Hizbollah, und Qassem Soleimani, bis zu seiner Tötung 2020 Kommandeur der ­al-Quds-Brigaden genannten Auslands­abteilung der Revolutionsgarden, vor vier Jahren an gleicher Stelle gegeben haben. Diese Autoritäten proiranischer und iranischer Milizen haben in stundenlangen Interviews unter anderem ihr Verhältnis zum iranischen Führungszirkel erläutert.

Sie bekannten freimütig, dass selbst militärische Details des 33-Tage-Kriegs der Hizbollah gegen Israel (2006) im Iran besprochen worden waren, und rühmten die Weitsicht Khameneis, der an solchen Treffen persönlich teilgenommen habe. Soleimani stellte vor allem den berüchtigten Terroristen Imad Mughniyeh heraus, ehemals Militärkommandeur der Hizbollah, der wie kein anderer dem Obersten Führer ergeben gewesen sei – das heißt, er gehorchte ihm aufs Wort.

Demnach hält der Iran seine sogenannten Widerstandskerne in Westasien an einer außerordentlich kurzen Leine. Sie werden von ihm nicht nur finanziert, sondern auch dirigiert. Das hat inzwischen sogar der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer erkannt, der über gute Beziehungen in den Iran verfügt. Er sprach in einem Interview mit der italienischen Tageszeitung Corriere della Sera Anfang November ausdrücklich von regia e supporto im Verhältnis des Iran zu den mit ihm verbündeten Milizen: Regie und Unterstützung. Dieses Interview ist deshalb interessant, weil Fischer kritische Äußerungen über den Iran eher vermeidet.

Internationalen Medienberichten zufolge hat der Mossad schon vor einem Jahr Pläne der Hamas zu einem Überfall erhalten, deren Übereinstimmung mit dem Vorgehen der Terroristen am 7. Oktober erstaunlich sei. Das israelische Kabinett dementierte die Meldung nicht; Ministerpräsident Benjamin Netanyahu will sich zu gegebener Zeit dazu äußern. Zu bedenken ist, dass solche Informationen nach vielen großen Attentaten aufgetaucht sind. Die US-Regierung soll vor 9/11 von saudischen Diplomaten gewarnt worden sein, der marokkanische Geheimdienst soll kurz vor dem Attentat auf dem Breitscheidplatz vor Anis Amri gewarnt haben. Es leuchtet ein, dass es nicht immer einfach ist, den Realitätsgehalt derartiger Erkenntnisse einzuschätzen, zumal es ja auch in den Sicherheitsorganen an Fachkräften mangelt.

Wenn dem Mossad die Pläne der Hamas vorlagen, dann erst recht den entsprechenden Stellen im Iran.

Das ist an diesem Punkt auch nicht das Wesentliche. Entscheidend ist vielmehr die naheliegende Schlussfolgerung: Wenn dem Mossad solche Pläne der Hamas vorlagen, dann erst recht den entsprechenden Stellen im Iran. Andernfalls würden die Revolutionsgarden jetzt eine Reihe von Kommandeuren degradieren. Man kann nicht einerseits erschrocken registrieren, dass iranische Ausbilder die bewaffneten Truppen im Gaza-Streifen zu effizienten Militäreinheiten trainiert haben, und andererseits glauben, diese würden immer noch wie umherschweifende Rebellen agieren. Ein Angriff der Größenordnung und der Präzision vom 7. Oktober wäre ohne erhebliche Hilfe von außen äußerst schwierig gewesen, schrieb die Washington Post am 9. Oktober.

Wenn iranische Offizielle versichern, vom 7. Oktober nichts gewusst zu haben, dann ist das eine Schutzbehauptung. Mehr noch: Die Unterlagen der Hamas, die der Mossad angeblich für Planspiele hielt, sind im Iran ganz anders gelesen worden, nämlich als Umsetzung der Strategie, die Nasrallah und Soleimani bereits 2019 angekündigt hatten und die derzeit Khamenei wieder ausbreitet.

Der Iran stellt Israel und dessen westliche Verbündete vor die Wahl, entweder seine Bedingungen zu akzeptieren oder mit Terror konfrontiert zu werden. Nicht nur Israel ist das Ziel dieser Terrorstrategie. Bei einer Rede vor Studenten sagte Khamenei: »Die muslimische Welt darf nicht vergessen, dass in dieser wichtigen, entscheidenden Angelegenheit die USA, Frankreich und Großbritannien diejenigen waren, die sich gegen den Islam, eine muslimische Nation und die unterdrückten Palästinenser stellten. Die muslimische Welt darf dies nicht vergessen. Es geht nicht nur um das zionistische Regime.« Das ist der Grund, weshalb man aufpassen sollte, wenn der Oberste Führer von »internationalen Widerstandskernen« spricht.

Hinter den Kulissen begleitet die Erpressung mit Terrorakten schließlich auch die Auseinandersetzungen um das iranische Atomprogramm. Wiederholt haben iranische Offizielle mit schweren Konsequenzen gedroht, wenn sie sich in den Verhandlungen um das faktisch nicht mehr existierende Atomabkommen von 2015 (JCPOA) nicht durchsetzen konnten – zuletzt als Großbritannien, Frankreich und Deutschland Mitte September ankündigten, diejenigen Sanktionen zu verlängern, die nach einer Regelung des JCPOA Mitte Oktober hätten auslaufen sollen. Offenbar muss man solche Drohungen ernst nehmen. Auch sollte die Tatsache nicht vergessen werden, dass sich während dieser ganzen Zeit die Zentrifugen in Natanz und Fordo unaufhörlich drehen und die Menge an angereichertem Uran weiter erhöhen, die inzwischen die vom JCPOA genehmigte Menge um mehr als das 15fache überschreitet.

Außerdem hat der Iran im Oktober einigen Inspektoren der International Atomic Energy Agency die Einreise verweigert. Angesichts der gefährlichen Entwicklung sprach der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, erstmals davon, der Iran könne ein zweites Nordkorea werden. Dort habe man erst die Inspektoren ausgewiesen und dann mit der Entwicklung der Atombombe begonnen.