Konservative Katholiken, Islamisten, Rechtsextreme und »Querdenker« bekämpfen in Belgien Sexualaufklärung

Hurra, hurra, die Schule brennt

Eine Kampagne gegen ein Sexualaufklärungsprogramm an belgischen Schulen bringt ultrakonservative Katholiken und Muslime, rechtsextreme Verschwörungstheoretiker und Impfgegner zusammen.
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Eine neue Verschwörungstheorie hat das Licht der Welt erblickt. Am Sonntag denunzierte das ultrakonservative religiöse Grüppchen Civitas Belgique auf einer Demonstration in Brüssel »die Umsetzung eines weltweiten, von der Weltgesundheitsorganisation geförderten Plans zur Einrichtung einer ›neuen sexuellen Weltordnung‹«. Die Demonstration richtete sich gegen eine neue Regelung über den Sexualkundeunterricht an Schulen im frankophonen Belgien, das Programm Evras (»éducation à la vie relationnel, affective et sexuelle«); es sieht einen obligatorischen vierstündigen Unterricht für Schüler und Schülerinnen im Alter von elf bis zwölf und von 15 bis 16 Jahren vor, der ihnen helfen soll, ihr Be­ziehungs- und Sexualleben zu entwickeln.

Nach offiziellen Angaben zielt das Programm darauf, den »Respekt vor dem anderen« und die Gleichheit der Geschlechter zu propagieren, »der Gewalt in Liebesbeziehungen vorzubeugen«, »sexistische und homophobe Stereotype zu dekonstruieren«, »nicht geplanten Schwangerschaften vorzubeugen« und schließlich »die auf sexuellem Weg übertragbaren Infektionen zu reduzieren«.

Etwa 1.500 Leute hatten sich zu dem Umzug versammelt. Den Ton gaben die Organisatoren vor, die der frankophonen belgischen ­Tageszeitung Le Soir zufolge insbesondere »Alain Escada, den Vorsitzenden von Civitas France, Nicolas Lefèvre, Gelbweste und Verantwortlicher von ›Bon Sens Belgique‹ (gegen das Impfen, die Eliten und die internationalen Institutionen), Daniel De Wolff, sehr ­aktiv in der Antiimpfszene, und Radya Oulebsir«, eine muslimische Aktivistin mit Hijab, umfassten.

Mindestens sechs Schulen in Wallonien wurden in der vorigen Woche in Brand gesetzt, wobei man, nach Angaben der Feuerwehr, Nachrichten auffand, die sich auf das Evras-Programm bezogen.

Von Beginn an wurden in den Reden die reproduktiven Rechte der Frauen und die »Ultrafeministinnen« attackiert, insbesondere die Vereinigung Ni putes ni soumises (Weder Huren noch Unterworfene) und das Centre d’action laïque (Zentrum laizistischer Aktion), das für seinen langen Kampf für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch und seine Unterstützung für das Programm Evras bekannt ist. Angegriffen wurde des weiteren die »LGBT-Lobby«, die für »Rechte ohne Hand und Fuß« eintrete; die Werte der »alten ­traditionellen Familie« wurden gegen die »gefährliche Ideologie von Evras« verteidigt.

Vorangegangen war der Demonstration eine Kampagne mit ­falschen Informationen über das Programm Evras, insbesondere in sozialen Medien. Ein Maskierter, der sich als Familienvater präsentierte, fachte auf Tiktok die Wut an, indem er einen angeblichen Bericht seines Sohns präsentierte, den »pädagogische Erzieher« aufgefordert hätten, das Geschlechtsteil eines kleinen Mädchens zu berühren. »Wir haben Pädophile an den Schulen«, regte er sich auf. Er habe sein Haus verkauft, um nach Spanien umzuziehen, denn so etwas »existiere nur in Frankreich«; kleiner Irrtum, das Evras existiert im frankophonen Belgien. Eine von 13.000 Personen unterzeichnete Petition forderte den französischen Bildungsminister Gabriel Attal auf, dass er »auf das Gesetz Evra« reagiere und es zurückziehe; Evras hat ein S am Ende, ist kein Gesetz, und als französischer Minister hat Attal nichts damit zu tun.

Eine weitere Petition erschien um den 13. September auf der Website »Les lignes bougent«. »Das S von Evras bedeutet, dass unsere Kinder über die Möglichkeiten von individuellem und GruppenSEX informiert werden, ZU MASTURBIEREN, ab 5 Jahren in der Schule, und von 9 Jahren an über Pornographie informiert und ihr unterworfen werden … VON AUSSERSCHULISCHEN BETEILIGTEN, das ist sehr schwerwiegend, man muss unbedingt dagegen vor­gehen«, konnte man Le Monde zufolge dort lesen. Der französische Rapper Rohff teilte demnach die Petition auf X (früher Twitter) mit seinen mehr als 800.000 Abonnenten, lud sie ein, sie zu unterzeichnen, was innerhalb einiger Tage 25.000 Leute, insbesondere Mütter, ­taten.

Mindestens sechs Schulen in Wallonien wurden in der vorigen Woche in Brand gesetzt, wobei man, nach Angaben der Feuerwehr, Nachrichten auffand, die sich auf das Evras-Programm bezogen. Ob aus der moralischen Panik, die die Kampagne schürt, und aus der fruchtbaren Zusammenarbeit integristischer Christen und Muslime mit rechtsextremen Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern eine große Bewegung wie in Frankreich mit den Manifs pour tous gegen die gleichgeschlechtliche Ehe entsteht, wird sich in nächster Zeit erweisen. Manifs pour tous brachte Anfang 2013 ­einige Hunderttausend auf die Straße.