Lenins Hinwendung zu den »unterdrückten Völkern« und ihre Wirkung bis heute

Weltpolitik als Fußballspiel

Russlands Überfall auf die Ukraine ist ein imperialistischer Krieg. Dennoch ist den Ukrainer:innen die Solidarität deutscher Anti­imperialist:innen nicht vergönnt. Die Frage nach der richtigen Imperialismusanalyse ist für das Schicksal der Opfer des russischen Angriffs erst einmal unerheblich.
Disko Von

Die deutsche Linke ist nicht gegen Krieg. Sonst würde sie seit dem 24. Fe­bruar vergangenen Jahres regelmäßig zu großen Demonstrationen aufrufen, die mit einer simplen Forderung beginnen: Russland soll sich sofort und bedingungslos aus der Ukraine zurückziehen. Seit dem 7. Oktober ist auch unübersehbar, dass nicht einmal Morde an Kindern antiimperialistische Linke davon abhalten, wie die Junge Welt nach dem Terrorangriff der Hamas, zu jubeln: »Gaza schlägt zurück«. Die antiimperialistische Linke ist – das ist keine neue Erkenntnis – ohnehin nicht gegen Imperialismus. Sonst wäre sie nicht, wie die Partei »Die Linke«, uneins über die Frage, ob sie den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilen soll. Denn offensichtlich ist, dass Russland in diesem Krieg als eine imperialistische Großmacht agiert. »Imperialistisch« heißt zunächst einmal, dass ein Staat oder eine Regierung versucht, einen anderen Staat ökonomisch oder politisch zu dominie­ren, ihn zu beherrschen oder zu vereinnahmen. Das ist offenkundig bei dem russischen Einmarsch in die Ukraine der Fall.

Wenn Menschen in und aus der Ukraine sich verzweifelt an deutsche Linke wenden und auf Russlands Imperialismus hinweisen, appellieren sie an vermeintliche linke Werte in der Hoffnung, damit Solidarität zu erwecken. Die Hoffnung ist verständlich. Aber unter Linken, die in der marxistisch-leninistischen Tradition stehen, können sie damit lediglich eine Minderheit erreichen. Denn der linke Antiimperialismus stellt sich, historisch betrachtet, nicht gegen den Imperialismus an sich. Er war und ist stets antiwestlich ausgerichtet, gegen die USA, die Nato und Israel.

1920 einigte sich die Kommunistische Internationale auf Lenins Forderung, sich nicht nur mit dem Proletariat in jedem Land zu solidarisieren, sondern auch mit »unterdrückten Völkern«.

Gegen einen iranischen, saudi-arabischen oder eben einen russischen Imperialismus regt sich aus diesem Lager selten Widerspruch. Stattdessen sind Redaktionen wie die der Jungen Welt oder Konkret bemüht,  sogar den russischen Überfall auf die Ukraine noch irgendwie zu rechtfertigen: als Reaktion auf die Osterweiterung der Nato, als antifaschistischen Krieg gegen eine angeblich von Nazis beherrschte Ukraine, als Kampf gegen den westlichen, also den vermeintlich wahren Imperialismus.

Das Grundproblem des klassischen Antiimperialismus besteht darin, dass er vornehmlich Nationalstaaten oder Volksgruppen kennt. Ganz so, als wäre globale Politik ein Fußballturnier, drehen sich die Diskussionen um die Frage, auf welcher Seite man stehe: USA oder Irak? Russland oder die Ukraine? China oder Taiwan? Israel oder Palästina?

Diese Sichtweise geht letztlich auf Wladimir I. Lenins Analyse des Imperialismus zurück. 1920 einigte sich die Kommunistische Internationale auf seine Forderung, sich nicht nur mit dem Proletariat in jedem Land zu solidarisieren, sondern auch mit »unterdrückten Völkern«. Dass nationale Bewegungen gegen »den Imperialismus« kämpfen, sollte ausreichen, um sie als Bündnispartnerinnen zu akzeptieren – ganz egal, ob sie ansonsten eine linke Politik verfolgten. So unterstützte die Kommunistische Internationale in China vor 100 Jahren nicht nur die dortige Kommunistische Partei, sondern auch die Nationalbewegung Kuomintang, die 1927 nach der Einnahme Shanghais gleich ein Massaker unter Gewerkschafts- und KP-Mitgliedern verübte. »In einer Nacht«, schrieb Victor Serge seinerzeit entsetzt, »wurde so die Arbeiterklasse von ihrem offiziellen Verbündeten besiegt und erdrosselt.«

Serge veröffentlichte seine Artikel zu China in der französischen Zeitschrift Clarté. Er lebte in Leningrad, seine Berichte stützten sich auf das, was man in Sowjetrussland aus der Presse erfahren konnte. Im Mandatsgebiet Palästina war die dortige Kommunistische Partei, von Jüdinnen und Juden gegründet, aufgerufen, den arabischen Nationalismus zu befördern, um ihn als Waffe gegen den Imperialismus nutzen zu können. Dabei berichteten die Mitglieder der KP Palästinas schon Anfang der 1920er Jahre von Pogromen, die nationalistische Araber:innen verübt hatten.

Wiederholt hat es Versuche gegeben, den Antiimperialismus zu läutern. So vor 20 Jahren, als gleich zwei Bücher mit dem Titel »Der neue Imperialismus« erschienen. Das eine stammte von dem in den USA lehrenden Marxisten David Harvey, das andere von einer Gruppe Autor:innen um den Politikwissenschaftler Frank Deppe. Beide reagierten sowohl auf den (sich abzeichnenden) Einmarsch der Vereinigten Staaten in den Irak als auch auf die antiimperialistische Mobilisierung gegen diesen Krieg.

Der Einmarsch war mit Lügen gerechtfertigt worden. US-Außenminister Colin Powell hatte vor den Vereinten Nationen behauptet, Beweise dafür zu haben, dass der Irak über Massenvernichtungswaffen verfüge. Wie sich herausstellte, waren die angeblichen Beweise gefälscht worden. Der Auftritt war ein »Schandfleck« in seiner Karriere, gab Powell später zu. Die antiimperialistische Linke mobilisierte gegen diesen Krieg mit Aufrufen, den »irakischen Widerstand« zu unterstützen. Also auch Saddam Hussein, seine Ba’ath-Partei und islamistische Terrorgruppen wie al-Qaida im Irak?

Dagegen forderten Frank Deppe und seine Mitautor:innen 2004, an humanistischen Prinzipien festzuhalten und sie nicht einer antiimperialistischen Logik zu opfern. Es sei falsch, mit »diese(r) Gegenbewegung« im Irak solidarisch zu sein. Denn diese »Gegengewalt« könne »kaum als Befreiungskampf gelten«, weil »der von ihr praktizierte Terrorismus völlig gleichgültig gegen seine Opfer« sei und deren »Ziele rückwärtsgewandt sind«, weil sie »auf neue – religiös legitimierte – Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse zielen«. Harvey warnte noch grundsätzlicher, eine gegen den westlichen Imperialismus gerichtete Politik laufe stets Gefahr, »ältere Muster der sozialen Verhältnisse« als »Lösung« zu postulieren in »einer Welt, die sich längst weiterentwickelt hat«.

Sowohl Harvey als auch der Kreis um Deppe wollten die traditionelle Feindschaft gegen den Imperialismus bewahren, aber sie gleichzeitig vor dem Bündnis mit dem Terror befreien. Das Grundproblem – nämlich der dem marxistisch-­leninistischen Antiimperialismus zugrundeliegende Befreiungsnationalismus – ist mit solchen Läuterungsversuchen noch nicht wirklich angetastet. Gegen diesen Nationalismus lässt sich nur wiederholen, was Rosa Luxemburg bereits 1916 in einfachen Worten klarmachte: »Die imperialistische Politik«, schrieb sie in »Die Krise der ­Sozialdemokratie« (1916), sei »nicht das Werk irgendeines oder einiger Staaten«, sondern vielmehr »das Produkt eines bestimmten Reifegrads in der Weltentwicklung des Kapitals«, eine »internationale Erscheinung, ein unteilbares Ganzes, das nur in allen seinen Wechselbeziehungen erkennbar ist und dem sich kein einzelner Staat zu entziehen vermag«.

Vor jeglicher Parteinahme für die eine oder andere Seite habe, so Luxemburg bereits vor dem Ersten Weltkrieg in ihrer großen Studie »Die Akkumulation des Kapitals«, eine marxistische Kritik des Imperialismus die ökonomischen Motive zu ermitteln. Die Hauptaufgabe sei es, unter dem »Wust der politischen Gewaltakte und Kraftproben« die »strengen Gesetze des ökonomischen Prozesses« zu analysieren.

In Bezug auf den russischen Überfall auf die Ukraine ist das, trotz einiger Versuche, bis heute kaum gelungen. Der Angriff erscheint vielmehr als irrationaler Akt, Ausdruck reinen Machtwillens, ohne ökonomisches Kalkül. Vielleicht ist es aber ein zu enges Verständnis politökonomischer Analyse, lediglich nach rationalen Beweggründen zu suchen. Auch irrationale Handlungen können ökonomisch motiviert sein, etwa als verzweifelte Versuche, einer Krise zu entkommen oder ihr vorzubeugen.

Da Luxemburg betonte, dass jeder kapitalistische Staat letztlich ein imperialistisches Gebilde sei – da der Kapitalismus nicht anders könne, als sich ständig weiter auszubreiten –, gilt das im Prinzip auch für die Ukraine. Aber ein solcher Einwand ginge an den derzeitigen Verhältnissen vorbei. Die Ukraine ist – wirtschaftlich und militärisch – weit davon entfernt, Russland angreifen und erobern zu können. Es ist absurd zu erwägen, ob Sankt Petersburg einmal von ukrainischen Streitkräften so zerstört werden könnte, wie die russische Armee es mit Mariupol bereits getan hat.

Luxemburgs Analyse des Imperialismus wurde von der Kommunistischen Internationale ebenso ignoriert wie, bis heute, von Antiimperialist:innen. David Harvey entdeckte sie gewissermaßen wieder. Aber ihm reichte eine auf die ökonomische Basis fokussierte Analyse nicht aus. So kombinierte er sie mit Hannah Arendts Theorie imperialistischer Politik und betonte, Staaten folgten nicht nur einem »kapitalistischen Imperialismus« der Bourgeoisie, sondern einer eigenen »Logik« des »territorialen Imperialismus«.

Wenn derzeit darüber diskutiert wird, ob Russlands Angriffskrieg auch auf »außerökonomische Motive wie tiefsitzende antiwestliche Paranoia und imperiale Mythen« zurückzuführen sei, worauf Udo Wolter an dieser Stelle hingewiesen hat, ist das also keine neue Frage. Selbst wer Luxemburgs Aufforderung folgen will und nach ökonomischen Ursachen des Imperialismus sucht, sollte nicht zu einem monokausalen Hauptwiderspruch-Marxismus zurückkehren.

Doch die Frage, inwieweit die derzeitige russische Politik mit den klassischen Theorien des Imperialismus zu erklären ist, verkennt einen entscheidenden Punkt: Im Kern geht es um Solidarität mit Menschen, deren Leben mit jedem weiteren russischen Angriff bedroht ist. Es geht um die Hoffnung, dass deutsche Linke sich wenigstens auf eine Forderung einigen können sollten: Die russischen Streitkräfte müssen sich vom Territorium der Ukraine zurückziehen. Sofort und bedingungslos.