Der Rechtsstaat ist Teil des falschen Ganzen und schützt doch vor der Barbarei

Das Gebot der Stunde

Die universellen Werte von Freiheit und Gleichheit sind mit der ­vermittelten Gewalt des bürgerlichen Rechts in den Grenzen seiner Möglichkeiten aufrechtzuerhalten. Das scheint dieser Tage als letzte Bastion gegen das noch Schlimmere: die unmittelbare Gewalt der Antisemiten.

Will man Antisemitismus abschaffen, so bedarf es einer radikalen Umwälzung der Eigentumsverhältnisse. Eine Gesellschaft, die sich durch kapitalistische Produktionsweise reproduziert, braucht Menschen, die ihre Haut zu Markte tragen. Kein persönliches Abhängigkeitsverhältnis, sondern der stumme Zwang zur Selbsterhaltung nötigt das formell freie Individuum, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Seine Austauschbarkeit im Verwertungsprozess erinnert es stets an die eigene Überflüssigkeit. Im Zentrum der Reproduktion des Lebens steht nicht das unvergleichbare menschliche Bedürfnis, sondern dieses wird nur als Anhängsel der Kapitalakkumulation mitgeschleift.

Der Groll, den das hervorruft, nährt das Bedürfnis, der undurchschauten unpersönlichen Herrschaft habhaft zu werden. Das Gefühl entsteht, es müsse doch irgendwer zur Verantwortung gezogen werden. Eine Inkarnation des Kapitalwiderspruchs auszumachen, um sie (und somit vermeintlich auch ihn) zu tilgen, erscheint als Erlösungsversprechen. Das Gerücht über die Juden verfängt sofort.

Wird das staatliche Gewaltmonopol aufgehoben, droht Verwertungslogik in Vernichtungslogik umzuschlagen.

Der Wahn einer jüdischen Weltverschwörung bedient das Bedürfnis nach einem Schuldigen, an dem der Hass auf das falsche Ganze sich entladen kann. Die Erscheinungsformen dieses Wahns verändern sich stetig. Während sich die weltweit einflussreichste antisemitische Schrift, die »Protokolle der Weisen von Zion«, in islamisch geprägten Gesellschaften weiterhin einer ­offenen Popularität erfreut, wurde sie hierzulande nach der Shoah tabu­isiert.

Der Wahn passte sich dem Weltlauf an und fand eine Alternative: Da der Jude einen eigenen Staat hat und nicht mehr offen als parasitärer Eindringling in seine Wirtsvölker verunglimpft werden darf, muss der jüdische Staat diese Rolle übernehmen. Der Begriff »Jude« wurde durch »Zionist« ersetzt, das Böse nicht mehr unumwunden im Weltjudentum personifiziert, sondern in Israel. Antizionismus und Antisemitismus sind zwei Seiten einer Medaille – Ausdruck des Widerspruchs von Kapital und Recht.

Das Ressentiment des alten Antisemitismus zielt auf den ungeschützten Diasporajuden ab. Der menschliche Wunsch nach Wohlstand ohne Arbeit ist im Kapitalismus tabuisiert. Das verdrängte Eigene wird auf den Juden projiziert und soll in seiner Gestalt endgültig ausgetrieben werden. Deshalb gilt es, den Juden, der solchen Wohlstand auf Kosten seiner Wirtsvölker genieße, zu vernichten (»Arbeit macht frei«). Man bemüht das seit dem Ende der Ständegesellschaft anachronistisch gewordene Modell personaler Herrschaft – die Verschwörung einer Elite –, um der Schattenseite der Moderne habhaft zu werden. Auch die Dämonisierung Israels beruht auf Projektion: Weil die inneren Widersprüche des Kapitalismus es unmöglich machen, ihm die Destruktivität auszutreiben, wird diese einer Macht zugeschrieben, die sich direkt und unmittelbar gegen Weltfrieden und universelle Menschenrechte verschworen habe. Der »Jude unter den Staaten« (Léon Poliakov) sei schuld, dass es keine Heimat ohne Grenzstein gibt.

Dass eine kapitalistische Welt notwendig auf Staaten beruht, die das Eigentumsrecht durch Gewalt schützen, wird verdrängt. Mit der Vernichtung Israels soll der Staat von seinen Grenzen und das Recht von der Gewalt befreit werden, ohne die Gesellschaft, die diese widersprüchlichen Formen hervorbringt, zu verändern. So wird die eigene Ohnmacht gegenüber dem falschen Ganzen verdrängt. Durch die Vernichtung des Juden soll die abstrakte Arbeit aus dem Kapitalverhältnis exorziert werden, durch die Vernichtung Israels die Gewalt aus dem bürgerlichen Recht.

Die jedem Staat innewohnende instru­mentelle Gewalt wird Israel als Selbstzweck und einzige Daseinsbestimmung unterschoben. In einer antikolonialen Staatengründung, wie der Israels, innerhalb eines imperialistisch besetzten Territoriums (des britischen Empire) imaginiert der Antizionist Kolonialismus herbei, im Schutz der Bevölkerung durch Staatsgrenzen die Inhaftierung und Ghettoisierung der Nichtstaatsbürger. Die Aufrechterhaltung einer jüdischen Mehrheit dämonisiert er zur Apartheid, den defensiven Militäreinsatz gegen die eliminatorischen Antisemiten der Hamas, die ein genozidales Pogrom zu verantworten haben, zum Genozid. Was in jedem anderen Staat selbstverständlich ist – der Schutz von Leib und Leben der Staatsbürger –, wird im Falle Israels zum absoluten Bösen. Selbstverteidigung wird zum aggressiven imperialistischen Akt.

Das Kapitalverhältnis ist jedoch überall auf Staaten als Garanten des funkti­onierenden Warenverkehrs angewiesen, das heißt auf territorial abgesicherte Entitäten, die in Konkurrenz zueinander stehen, wobei der Stärkere sich im Zweifel gewaltsam durchsetzt. Doch innerhalb der staatlichen Grenzen entsteht ein Rechtssubjekt, dessen Eigentum vor unmittelbarer Aneignung durch andere geschützt wird. Ausgrenzung durch Staatsgrenzen und Repression durch Eingriffe in Grundrechte in Form beispielsweise von Demonstrationsverboten stehen der postulierten Freiheit und Gleichheit zwar entgegen, sind jedoch notwendige Bedingungen bürgerlicher Gesellschaft. Ohne sie würde der Staat aufhören zu existieren. Was an dessen Stelle träte, dürfte angesichts der ideologischen Zurichtung der bürgerlichen Individuen offenkundig keine freie Assoziation freier Individuen im Marx’schen Sinn sein.

Damit ist die falsche Aufhebung des gesellschaftlichen Widerspruchs angesprochen: die Entsublimierung als Massenphänomen. Wird das staatliche Gewaltmonopol aufgehoben, droht Verwertungslogik in Vernichtungslogik umzuschlagen. Die bürgerliche Gesellschaft setzt die Kontrolle und Einschränkung von Macht voraus, da Gewalt über das Recht vermittelt wird. Mit der Aufhebung des Gewaltmonopols droht das noch Schlimmere: unmittelbare Gewalt. Obgleich der Staat das Prinzip formeller Freiheit und Gleichheit sowie Leib und Leben der Staatsbürger nur schützt, weil sie Voraussetzung der Reproduktion einer kapitalistischen Gesellschaft sind und damit das Individuum nicht Zweck, sondern Mittel ist, bringt die Vermittlung von Gewalt durch das Recht eine gewisse Fähigkeit hervor, dem Rückfall in unmittelbare Gewalt zu widerstehen; eine Widerstandsfähigkeit, die sich in universalistischen Normen und Werten manifestiert.

Das Recht ist angewiesen auf die Unterdrückung und Abwehr von Angriffen auf diese fragilen (da nicht wahrhaft verwirklichten) Werte – andernfalls würde es seine Funktion nicht mehr erfüllen, die eigene Bevölkerung zu schützen. Wie restriktiv oder liberal der Staat auf Angriffe gegen diese Werte reagieren kann, ohne diese selbst aufzugeben – ob er sie toleriert oder unterdrückt –, hängt vom Ausmaß der Bedrohung ab.

Ein »schwacher Staat« bedarf einer zivilisierten Bevölkerung, also Bürgern, die universalistische Werte mehrheitlich so weit internalisiert haben, dass sie dem dumpfen Drang widerstehen können, den gesellschaftlichen Widerspruch durch eine radikale Aufhebung des Rechts aufzulösen. Die Identifikation des Einzelnen mit zivilisatorischen Errungenschaften ist jedoch im Schwinden begriffen. Diejenigen, die (noch) von bürgerlichen Werten profitieren, wurden durch die postmoderne Ideologie über Jahrzehnte daran gewöhnt, »den Westen« als Inbegriff des Bösen zu hassen und sich mit den unterprivilegierten Völkern des »Globalen Südens« zu identifizieren, ganz gleich welche Gewaltherrschaft dies konkret bedeutet. Der Grad moralischer Verrohung, der damit einhergeht, wird seit dem 7. Oktober tagtäglich unter Beweis gestellt. Das postkoloniale Weltbild wird gegen jede noch so offensichtliche Evidenz aufrechterhalten.

Nur eine Bevölkerung, die die basalen bürgerlichen Werte – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – als Grundübel begreift, ist fähig, genozidale Massaker an der israelischen Bevölkerung zu rechtfertigen. Die schiere Zahl derjenigen, die in einer an Massenwahn grenzenden Täter-Opfer-Umkehr bereit sind, sich mit islamistischen Terroristen zu identifizieren und das größte Pogrom nach der Shoah zum Befreiungskampf eines unterdrückten Volkes zu stilisieren, zeigt, dass der dünne Firnis der Zivilisation durch die postmoderne Verabschiedung der Wahrheit fast restlos abgetragen wurde und der Barbarei des Jihad kaum noch entgegensteht.

Staatliche Repressionen gegen den antisemitischen Mob sind derzeit – so schmerzhaft dies für einen Menschen ist, der das Kapitalverhältnis gerne abgeschafft sähe – die letzte Bastion der Zivilisation. Obwohl der Staat daran teilhat, stets aufs Neue das antisemitische Bedürfnis hervorzubringen, stellt er sich derzeit gegen das noch Schlimmere: die Vernichtung um der Vernichtung willen. Wer beim gegenwärtigen Stand der Bedrohung dem Schutz der Opfer des Antizionismus nicht unbedingten Vorrang einräumt, beweist, dass er Juden das Menschsein abspricht.

Dieser Entzug von Empathie ist erste Voraussetzung des Antisemitismus. Von dort führt ein gerader Weg zur Rechtfertigung, Befürwortung, Vorbereitung und Durchführung des antisemitischen Auftrags, den Tod des Juden herbeizuführen, die Vernichtung Israels »from the river to the sea« – auf dass der Jude dem Antisemiten wieder schutzlos ausgeliefert sei.

Daher heißt das Gebot der Stunde: gewalttätige Antisemiten an Universitäten exmatrikulieren und entlassen, antizionistische Demonstrationen auflösen, antizionistischer »Kunst«, »Kultur« oder »Wissenschaft« die Förderung entziehen und Terror(vorfeld)organisationen konsequent bekämpfen – ob sie nun Hamas, Samidoun oder UNRWA heißen. Es droht die Katastrophe, und ihr weicht man nicht aus, indem man sehenden Auges in sie hineinrennt.