Ein Gespräch mit dem Historiker John-Paul Himka über ukrainischen Geschichts­revisionismus

»Die Historiker des Holocausts in der Ukraine arbeiten weiter«

Am 22. September sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem kanadischen Unterhaus. Nach seiner Rede applaudierten die Abgeordneten auch dem 98jährigen Jaroslaw Hunka, vom Unterhaussprecher Anthony Rota vorgestellt als »ukrainisch-kanadischer Veteran des zweiten Weltkriegs, der für die ukrainische Unabhängigkeit gegen die Russen gekämpft hat«. Später wurde bekannt, dass Hunka Veteran der Waffen-SS-Division »Galizien« ist, einer 1943 aufgestellten Einheit, in der viele ukrainische Freiwillige kämpften. Ein Gespräch mit dem Historiker John-Paul Himka über Geschichtsrevisionismus in der ukrainischen Diaspora, sowjetische Propaganda und seinen Respekt für ukrainische Holocaust-Historiker.
Interview Von

Das Unterhaus des kanadischen Parlaments, das House of Commons, applaudierte einem Veteranen der Waffen-SS. Wie konnte es dazu kommen?
Unterhaussprecher Anthony Rota, der mittlerweile von seinem Amt zurückgetreten ist, hat Hunka im Parlament vorgestellt. Rota hat wahrscheinlich keine Ahnung von ukrainischer Geschichte und dachte wohl, es wäre nett, diesen ukrainischen Veteranen einzuladen. Das Ergebnis war dieses Desaster.

Und wie ist die kanadische Regierung damit umgegangen?

Die Regierung hat sich ausgiebig entschuldigt. Sie versucht, den Schaden zu begrenzen. Aber sie hat viel Schaden angerichtet. Jüdische Organisationen sind empört. Ukrainische Organisationen fühlen sich angegriffen. Die konservative Opposition greift die liberale Regierung von Justin Trudeau an, Linke und sehr Rechte skandalisieren den Vorfall. Teile der kanadischen Konservativen sind von Trump-artigen populistischen Kräften dominiert, und für die ist das ein gefundenes Fressen.

Der Skandal schlug auch weltweit Wellen. Viele meinen, der Vorfall sei symptomatisch für die ukrainische Diaspora in Kanada.

Ich trete schon sehr lange dafür ein, dass wir uns ehrlich der Geschichte verschiedener ukrainischer nationalistischer Bewegungen im Zweiten Weltkrieg und von Kollaborationsorganen wie dem Ukrainischen Zentralkomitee, das den Nazi-Besatzungsbehörden unterstand, stellen müssen. Hätte man das getan, wäre die ukrainische Gemeinschaft womöglich nicht so unsensibel gewesen, auf die Idee zu kommen, man könnte einen Veteranen der Waffen-SS im Parlament ehren. Es gibt viel Ignoranz bei diesen Themen.

Was meinen Sie mit Ignoranz?

Die Universität von Alberta hatte einen einen Stiftungsfonds im Namen von Jaroslaw Hunka in Höhe von 30 000 kanadischen Dollar. Dieses Geld hat sie jetzt zurückgegeben. Aber der Historiker Per Anders Rudling, ein Experte für ukrainischen Nationalismus, hat darauf aufmerksam gemacht, dass es zahlreiche solcher Großspenden von ehemaligen Mitgliedern der Division Galizien an das Ukraine-Institut der Universität Alberta gegeben hat. Und diese Spender bevorzugen natürlich eine beschönigende Auseinandersetzung mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Das Ergebnis ist, dass viele in der ukrainischen Diaspora bis heutzutage ignorante Vorstellungen davon haben, was akzeptabel ist und was nicht.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Veteranen der Waffen-SS in Kanada leben?

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Migrationswelle aus den Flüchtlingslagern in Westeuropa, darunter viele Personen, die in irgendeiner Form mit den Nazi-Besatzungsbehörden zusammengearbeitet hatten oder Mitglied nationalistischer Bewegungen gewesen waren. So kam es, dass nach dem Krieg die Führung vieler Organisationen der ukrainischen Diaspora bei Personen lag, die einen Kollaborationshintergrund hatten. Und viele der gewöhnlichen Menschen in der ukrainischen Diaspora haben mit der Zeit deren Version des Zweiten Weltkriegs übernommen. Es wurde immer versucht, das aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, aber das ist jetzt – angesichts des Kriegs, in dem die Ukraine um ihr Überleben kämpft und Russland sie als Nazi-Staat bezeichnet – ziemlich schiefgegangen. Hätte man sich all dem früher gestellt, hätte es diesen Skandal nicht geben können.

Aber die Kollaboration von Ukrainern mit den Nazis war doch schon im Kalten Krieg ein Thema. Die Sowjetunion veröffentlichte sogar Bücher darüber, die im Westen erschienen.

Diese Veröffentlichungen hatten in Kanada außerhalb prosowjetischer Kreise keine große Wirkung. Und die So­wjets lenkten zwar Aufmerksamkeit auf die Kollaboration ukrainischer Exilanten mit den Nazis, aber sie hatten kein wirkliches Verständnis vom Holocaust. Die Ermordung der Juden wurde in der Sowjetunion kaum erforscht, es gab keine öffentliche Debatte über sie. Deshalb wusste man in der Sowje­tunion auch nicht viel über die Beteiligung ukrainischer Nationalisten am Holocaust.

»Die Ermordung der Juden wurde in der Sowjetunion kaum erforscht, es gab keine öffentliche Debatte über sie.«

Für die sowjetischen Machthaber stand die Division Galizien im Mittelpunkt. Diese hatte gegen die Rote Armee gekämpft und damit aus sowjetischer Sicht das Vaterland verraten – aber am Holocaust war diese Einheit nur am Rande beteiligt. Die Organisa­tion Ukrainischer Nationalisten (OUN) hat eine viel wichtigere und aktivere Rolle gespielt: Ihre Mitglieder haben sofort nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1941 in zahlreichen Fällen Juden ermordet und Juden zusammengetrieben, damit die Deutschen sie ermorden konnten. Und die Ukrainische Aufstandsarmee (Ukrajinska powstanska armija, UPA, 1942 von der OUN gegründete Partisanenarmee, Anm. d. Red.) hat ebenfalls Juden gejagt und ermordet.

Was können Sie über das Nachleben dieser Organisationen in der ukrainischen Diaspora sagen?

Die direkte Nachfolge des sogenannten Bandera-Flügels der OUN war zunächst in Westdeutschland ansässig. Ihr Anführer Stepan Bandera lebte in München, wo er 1959 ermordet wurde, ebenso Jaroslaw Stezko, nach Bandera der höchstrangige Anführer des Bandera-Flügels. Die Anführer der OUN hatten bereits während des Kriegs, als sich die deutsche Niederlage abzeichnete, damit begonnen, beispielsweise ihren mörderischen Antisemitismus zu verleugnen, weil sie Verbindungen mit den Westalliierten suchten. Mit der Zeit gelang es ihnen, immer mehr das Geschichtsbild auch der ukrainischen Diaspora zu bestimmen. Während des Zweiten Weltkriegs lehnte die Ukrainian Self-Reliance League of Canada noch klar und deutlich die nationalistischen Bewegungen ab, die Deutschland unterstützt hatten. Aber nach dem Krieg etablierten sich viele Nachfolgeorganisationen der OUN in der Diaspora, auch in den USA.

Das führte beispielsweise dazu, dass, als der ukrainische Präsident Wiktor Juschtschenko 2010 dem OUN-Anführer Bandera den Titel »Held der Ukraine« verlieh, der Ukrainisch-Kanadische Kongress die kanadische Regierung aufforderte, ehemaligen OUN- und UPA-Mitgliedern in Kanada Veteranenrenten zu zahlen. Das war der Moment, als meine Konflikte mit diesen Diaspora-Organisationen wirklich begonnen haben.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie während des Kalten Kriegs selbst noch ein ganz anderes Bild von der OUN und der UPA hatten. Was hat sich aus der Sicht der Geschichtsforschung mit dem Ende des Kalten Kriegs geändert?

Erstens wurden die sowjetischen Archive geöffnet. Das war sehr wichtig. Das Zweite war um die Jahrtausendwende die Veröffentlichung des Buchs »Nachbarn: der Mord an den Juden von Jedwabne« von Jan Gross, das die Aufmerksamkeit auf die Pogrome und die Rolle der lokalen Einwohner bei der Ermordung von Juden richtete. Gross war anders als viele Holocaust-Historiker vor ihm genau mit dem lokalen Kontext vertraut. Das war ein Durchbruch bei der Erforschung des Holocausts. Historiker wie ich haben außerdem noch Zeugnisse von jüdischen Überlebenden studiert. Zusammengenommen ergab sich ein neues Bild der Aktivitäten und der Ideologie der ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg.

Und was für eines?

Beispielsweise wurde erst so das ganze Ausmaß ihres Antisemitismus bekannt. Auch im Kalten Krieg konnte man zwar schon ihre alten Zeitschriften lesen, in denen sie die »jüdische Frage« diskutierten. Man konnte nachverfolgen, wie sie nach Hitlers Machtergreifung eine viel konsistentere antisemitische Position entwickelten und den Kommunismus mit einer jüdischen Weltverschwörung identifizierten. Aber in den sowjetischen Archiven gab es neue Dokumente, zum Beispiel die Autobiographie, die Jaroslaw Stezko 1941 im deutschen Hausarrest verfasst hatte. Darin erklärte er seine Unterstützung für die deutschen Methoden zur Auslöschung der Juden.

Oder Dokumente aus sowjetischen Kriegsverbrecherprozessen. Kai Struve von der Universität Halle hat 2015 ein sehr gründlich recherchiertes Buch über die Rolle der OUN bei den Pogromen und Massenmorden im Jahr 1941 vorgelegt. Auch über die Rolle der Ukrainischen Hilfspolizei, in der es viele OUN-Mitglieder gab, gab es mehr Informationen. Oder Belege für Befehle der UPA, Juden und alle, die Juden versteckten, zu töten. Kurz: Die Belege für die Beteiligung der OUN und der UPA an der Ermordung der Juden sind erdrückend.

Wie kann man das dann noch leugnen?

Ein Grund scheint mir, dass die Leute heutzutage nicht mehr viel lesen. Als ich jung war, haben wir noch Bücher gelesen, jetzt scheinen es viele bei einer Google-Suche zu belassen. Damit kann man dieser sehr komplexen Geschichte aber nicht gerecht werden. Die meisten glauben, was man ihnen vorsetzt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich wurde oft in den Publikationen der ukrainischen Diaspora angegriffen, ohne antworten zu können. Oder ich wurde Opfer von deplatforming, man lud mich also aus, wenn ich irgendwo sprechen sollte. Das größte Versagen aber gab es im akademischen Bereich bei den Ukrainian Studies, wo diese Themen, weil man auf Spenden aus der Diaspora aus war, gemieden oder apologetisch diskutiert wurden.

Das hat sicher noch besser funktioniert, als die Ukraine noch nicht im Fokus der Weltöffentlichkeit stand.

Ja. Es wäre viel klüger gewesen, mit diesen Themen früher offen umzugehen. Aber schauen sie sich an, wie andere Gruppen mit dem Zweiten Weltkrieg umgegangen sind. Wie war es denn in Deutschland? Heute zeigen alle auf Herrn Hunka, diesen schrecklichen Menschen, der mit 18 Jahren in die Waffen-SS eingetreten ist. Aber was ist das gegen all die hochrangigen Nazis, die nach dem Krieg nie belangt wurden, sondern in Deutschland Karriere machten? Jetzt löst so ein relativ unbedeutender Mensch wie Hunka so einen Skandal aus.

Wie war es möglich, dass sich die Rehabilitierung der OUN und der UPA nicht nur in der ukrainischen Dia­spora, sondern nach dem Kalten Krieg auch in der unabhängigen Ukraine durchsetzte? Die war immerhin jahrzehntelang eine Sowjetrepublik gewesen, das Land hatte unter den Nazis gelitten, Millionen Menschen hatten in der Roten Armee gekämpft. Und hat nicht die Sowjetunion gegen ukrainische Nationalisten Propaganda gemacht?

Sie hat definitiv die UPA verdammt, aber nicht im Zusammenhang mit ihrer Gewalt gegen Juden. Die UPA, diese große antisowjetische Aufstandsbewegung, war für Sowjets überhaupt ein schwieriges Thema, weil sie dem Mythos des im Kampf gegen den Faschismus geeinten sowjetischen Volks widersprach. Die UPA hat nach dem Abzug der Deutschen in der Westukraine einen sehr gewalttätigen Aufstand gegen die Sowjetunion angeführt, der auch mit viel Gewalt niedergeschlagen wurde. Das hat die Sowjetunion propagandistisch ausgeschlachtet, aber sie wollte antijüdische Verbrechen der UPA nicht besonders hervorheben.

Warum?

Man muss verstehen, dass die Sowjetunion selbst ziemlich antisemitisch war. Nicht immer und überall, und natürlich war Antisemitismus offiziell verboten, aber der Antizionismus spielte eine sehr große Rolle, in vielen kommunistischen Staaten. Denken Sie an den Slánský-Prozess oder die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Die sogenannten Refuseniks in der Sowjetunion. 1963 erschien in Kiew das berüchtigte antisemitische Buch »Das ungeschminkte Judentum«. Diesen Kontext muss man bedenken.

In Ihrem Buch schildern Sie eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1973, in der der KGB den Antisemitismus der OUN thematisierte: Ein Buch mit dem Titel »Lest We Forget«, das Belege für die Beteiligung der OUN am Holocaust lieferte. Es sollte Zwietracht zwischen »Zionisten« – also Juden – und ukrainischen Nationalisten im Westen säen. Warum hielt der KGB das überhaupt für nötig?

Das hatte mit den Dissidenten zu tun. Es gab in den sechziger und siebziger Jahren in der Ukraine Menschenrechts- und nationalistische Aktivisten. Leute wie Iwan Dsjuba, dessen Buch »Internationalism or Russification?« 1968 im Westen veröffentlicht wurde. Und eben auch viele Juden mit ähnlichen Pro­blemen. Sie wurden diskriminiert, und die sowjetischen Machthaber sahen es schon als subversiv an, wenn sie nur Hebräisch lernten. Zwischen diesen Dissidentengruppen gab es eine natürliche Allianz, die sich besonders in der Lagerhaft ergab. Das sieht man heute noch bei Personen wie Josef Zissels, dem Präsidenten des Verbands der jüdischen Gemeinden und Organisationen der Ukraine (Vaad). Zissels ist – und das wirkt zunächst verrückt – sehr apologetisch, was die OUN und UPA und ihre Verherrlichung in der Ukraine angeht, eben weil er bereits in der ­sowjetischen Lagerhaft mit ukrainischen Dissidenten enge Bande geknüpft hat. (Zissels wird sowohl von anderen ukrainischen jüdischen als auch von israelischen Organisationen dafür kritisiert, den Geschichtsrevisionismus in der Ukraine zu verteidigen, Anm. d. Red.) Diese Allianz zwischen »Zionisten« und ukrainischen Nationalisten wollten die Sowjets zerstören.

Auch in der Diaspora?

Gerade in der Diaspora. Dort spielte sich das ja vor allem ab. Es gab in den frühen Siebzigern eine von einer OUN-Gruppe im Westen veröffentlichte Zeitschrift, die durchaus lesenswert war, in der Texte von jüdischen Aktivisten, die die ukrainische Sache unterstützten, und Texte von Ukrainern, die die jüdische Sache unterstützten, nebeneinander standen, und die Einigkeit beider Gruppen beschworen wurde. »Lest We Forget« ist auf Englisch erschienen, nie in der Sowjetunion, es war eine auf den Westen gerichtete Aktion. Aber da hat es fast niemand geglaubt, vor allem die Ukrainer nicht. Es gab auch keine Möglichkeit, die in dem Buch zitierten Dokumente zu überprüfen.

Also war die Aktion nicht erfolgreich?

Kaum. Ich selbst habe als junger Historiker gedacht, dass das verrückt sei, was in diesem Buch steht. Erst gegen Ende der Achtziger habe ich begonnen, die Geschichtsversion der Diaspora infrage zu stellen. Heutzutage, wo wir Zugang zu den sowjetischen Archiven haben, wissen wir, dass viele der schockierenden Zitate in dem Buch authentisch waren.

Sie haben Ihr Bild der OUN und der UPA revidiert. In der Ukraine wurden diese Organisationen in den vergangenen Jahren rehabilitiert, ihre Anführer offiziell zu Helden erklärt. Wie kam es dazu?

Der UPA-Kult war zunächst nur ein regionales Phänomen in der Westukraine, in der Region Galizien. Er hatte viele Wurzeln. Die Erfahrungen der Galizier mit den Sowjets waren sehr negativ. Als diese 1939 das damals zu Polen gehörende Gebiet besetzten, gab es Morde und Deportationen. Und gleichzeitig war die Erfahrung der Ukrainer im Distrikt Galizien mit der Nazi-Besatzung weniger schlimm als in anderen Gebieten. Als die Rote Armee zurückkehrte, gab es die Aufstandsbewegung der UPA. Hunderttausende wurden in die Gulags deportiert. Als Stalin starb, kehrten viele der deportierten Menschen zurück. Die Folge all dessen war, dass es in dieser Region bei ethnischen Ukrainern eine besondere Abneigung gegen die Sowjetunion gab.

»Die Behauptung, Russland würde die Ukraine entnazifizieren, führt zu starker Ablehnung aller mit Russland verbundenen Narrative. Das Ergebnis ist wieder mehr Sympathie für nationalistische Positionen.«

In den sechziger und siebziger Jahren trafen ukrainische Dissidenten in der Lagerhaft oft auf ältere ukrainische Nationalisten, die sie sehr beeindruckten. Als diese Dissidenten dann in den späten achtziger Jahren aus der Haft nach Galizien zurückkehrten, hatten sie ein positives Bild der UPA und wollten sie rehabilitieren. Sie suchten eine spezifisch ukrainische Interpretation der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, die sich von der sowjetischen und russischen unterschied.

Und wie setzte sich das im Rest des Landes durch?

Die Westukraine hat immer sehr einheitlich gewählt und war deshalb bei Wahlen insbesondere für prowestliche Politiker sehr wichtig. 2004 gewann nach der sogenannten Orangenen Revolution Juschtschenko die Wahl, der die OUN und die UPA rehabilitierte und die Hungersnot von 1932, den Holodomor, zum Genozid erklärte. Das wurde stark unterstützt im Westen und eher abgelehnt im Osten der Ukraine. 2010 wurde dann Wiktor Janukowytsch aus der Ostukraine zum Präsidenten gewählt. Er wurde 2014 beim Euromaidan gestürzt und ersetzt durch Wiktor Po­roschenko, der wieder an der Rehabilitierung von OUN und UPA interessiert war. Also war es von 2004 bis 2010 und von 2014 bis zur Wahl Selenskyjs 2019 Regierungspolitik der Ukraine, die OUN und die UPA zu glorifizieren. Selenskyj wiederum gewann die Wahl im ganzen Land – außer ganz im Westen im Oblast Lwiw.

Also war die Wahl Selenskyjs auch eine Entscheidung gegen diese Art von Geschichtspolitik?

Ich denke, die Mehrheit hatte einfach diese patriotische Symbolpolitik und all diese Streitereien über den Zweiten Weltkrieg und die Sprachpolitik satt, sie wollte andere Themen adressiert sehen, etwa die Korruption oder das Gesundheitssystem. Deshalb haben 73 Prozent für Selenskyj gestimmt. Der hat diese staatliche Glorifizierung der OUN und der UPA zumindest nicht fortgesetzt. Zwar heißen die Straßen, die man nach Bandera und anderen Nationalisten benannt hatte, immer noch so, aber man hörte immerhin damit auf, weitere Straßen nach ihnen zu benennen. Ein pragmatischer Umgang mit dem Thema. Aber dann kam die Invasion.

Was hat sich seitdem verändert?

Selenskyj hat nicht angefangen, die OUN oder die Waffen-SS zu preisen, aber ich würde sagen, die öffentliche Stimmung hat sich wieder geändert. Besonders die Behauptung der russischen Regierung, sie würde die Ukraine entnazifizieren, führt zu starker Ablehnung aller mit Russland verbundenen Narrative. Das Ergebnis ist wieder mehr Sympathie für nationalistische Positionen.

Wie äußert sich das in Bezug auf die historische Forschung?

Nun, die Historiker des Holocausts in der Ukraine arbeiten weiter. Yuri Radchenko, einer der führenden Holocaust-Historiker der Ukraine, hat gerade eine detaillierte Studie über den Ablauf des Holocausts in den Grenzgebieten des heutigen Belarus, Russlands und der Ukraine geschrieben. Ein sehr beeindruckendes Buch, das bald im Ibidem-Verlag auf Russisch erschienen wird. Er belegt Verbrechen der Hilfspolizei, in der es viele ukrainische und russische Nationalisten gab. Ich habe großen Respekt vor jungen ukrainischen Historikern und Historikerinnen.

Wieso das?

Selbst nationalistisch eingestellte junge Historiker arbeiten oft sehr ehrlich. Es gibt außerdem eine ganze Reihe vielversprechender junger Historiker, die am Holocaust in der Ukraine interessiert sind. Einige leben jetzt in Europa, beispielsweise Marta Havryshko in der Schweiz. Oder der renommierte Holocaust-Historiker Alexander Kruglov – die Russen haben sein Haus zerstört, deshalb musste er fliehen.

Die russische Propaganda nutzt all diese Themen. Wie kann man in dieser Situation kritisch über ukrainische Geschichtsverdrehungen sprechen?

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Die Debatte in Kanada ist jedenfalls völlig aus dem Ruder gelaufen. Es gibt sehr viele Emotionen und kaum noch rationale Argumente. Ich denke, das Beste ist immer, dass man versucht, die Wahrheit herauszufinden. Ich muss sagen, dass ich mich im Wissenschaftskontext am sichersten fühle, da, wo man argumentiert, Belege anführt. Sobald ich Interviews gebe, so wie dieses, kann das irgendwelche Leute auf die Palme bringen.

Weil diese historischen Themen derart politisch aufgeladen sind …

Ja, wobei Forschung natürlich immer politische Auswirkungen hat. Aber hier geht es um sehr sensible Themen, um das schreckliche Leiden von unzählbar vielen Menschen. Ich finde die politische Instrumentalisierung von Ereignissen wie dem Holocaust, der Hungersnot von 1932/1933 oder der stalinistischen Verbrechen unsäglich. Das sind schreckliche Dinge, die sind nicht dazu da, damit irgendwer heute politisches Kapital draus schlägt. Wir müssen über diese Ereignisse nachdenken und aus ihnen lernen. Und gerade beim Lernen versagen wir ziemlich kläglich, wenn man sich heutzutage in der Welt umschaut.

 

John-Paul Himka

John-Paul Himka
ist emeritierter Professor für Geschichte an der Universität von Alberta. Er forschte über die Geschichte der Ukraine im 19. Jahrhundert, den Sozialismus in Polen und der Ukraine sowie über den Holocaust in der Ukraine und die Geschichte des ukrainischen Nationalismus im 20. Jahrhundert. 2021 erschien sein Buch »Ukrainian Nationalists and the Holocaust: OUN and UPA’s Participation in the Destruction of Ukrainian Jewry, 1941–1944« im Ibidem-Verlag.