»Am Ende war Allende ein sehr einsamer Präsident«
Vor den Gedenkveranstaltungen zum 11. September haben Sie die chilenische Linke kritisiert. Weshalb?
Für ihre ausbleibende Selbstkritik. Sie verhält sich zum Putsch von 1973 wie zu einem Meteoriteneinschlag, der völlig unerwartet über das Land kam. Doch der Putsch hat eine Vorgeschichte. Und die Linke, die damals regierte, trägt eine Mitverantwortung daran. Die Sozialistische Partei (Partido Socialista de Chile, PS), die als eine der beiden großen Kräfte des linken Bündnisses der Unidad Popular (Volkseinheit, UP; neben dem PS war die Kommunistische Partei Chiles, PCCh, maßgeblich; Anm. d. Red.) mit Salvador Allende den Präsidenten stellte, unternahm ab der Mitte der siebziger Jahre eine solche Selbstkritik. Doch die ist wie weggewischt und die heutige Linke kapriziert sich ausschließlich darauf, den Putsch zu verurteilen.
In ihrem Buch über die Unidad Popular schreiben Sie, dass diese mit dem »chilenischen Weg zum Sozialismus« versuchte, zwei unvereinbare Ideen miteinander zu verbinden. Welche?
Die UP, allen voran Salvador Allende, bekannte sich zur repräsentativen Demokratie. Sie wollte den Sozialismus nicht mit Waffengewalt, sondern über eine Änderung der Verfassung erreichen. Dabei trieb sie ihr Projekt der chilenischen Version einer marxistischen Revolution jedoch aus einer Minderheitsposition voran. Weder im Parlament noch in der Bevölkerung hatten sie dafür jemals eine Mehrheit und sie hätten sie auch nie bekommen. Das ist eine Quadratur des Kreises und, wie ich denke, der Hauptgrund dafür, dass die politische Krise so eskalierte und sich ausweitete, dass es zum Staatsstreich kam.
Sie sprechen auch von einer »paradoxen Strategie« der UP. Was meinen Sie damit?
Der legalistische Flügel, insbesondere die Kommunistische Partei, strebte stets einen Zusammenschluss mit fortschrittlichen Kräften des Bürgertums an. Eine bewaffnete Revolution kam für sie nicht in Frage. Der revolutionäre Flügel der UP, vor allem die Mehrheit des sich als marxistisch verstehenden PS, verfolgte eine klassenbasierte Politik. Die Partei war damals stark durch die Kubanische Revolution beeinflusst und in der Gewaltfrage ambivalent. So verhielt es sich auch bei den linkschristlichen Abspaltungen der Christdemokratischen Partei (Partido Demócrata Cristiano de Chile, PDC), dem Movimiento de Acción Popular Unitaria (MAPU) und der Izquierda Cristiana de Chile (IC), die sich 1969 beziehungsweise 1971 der UP anschlossen.
»Wenige ahnten, welche Brutalität der Putsch mit sich bringen würde und dass er nicht nur die politische Linke zerschlagen würde, sondern das gesamte demokratische System.«
Erstaunlich ist, wie deutlich links der nach damaligem Verständnis zentristische PDC wirtschaftspolitisch stand.
Der PDC hing der katholischen Soziallehre an und verstand sich damals als sozialistische Partei. Die christdemokratische Vorgängerregierung Allendes unter Präsident Eduardo Frei Montalva war eine progressive Regierung. Sie verstaatlichte die Kupferminen und setzte die Landreform der Vorgängerregierung fort. Und was wenig bekannt ist: Sie richtete Familienplanungszentren ein, wo Frauen umsonst die Antibabypille erhalten konnten. Allende wurde vom Parlament, dem damals die Stichwahl zufiel, nur dank der Stimmen des PDC zum Präsidenten gewählt und diese unterstützte auch die ersten Regierungsprojekte der Linken. Theoretisch gab es also 1970 in Chile eine Mehrheit, die für große soziale Veränderungen war. Doch stattdessen gingen sich die Christdemokratie und die Linke gegenseitig an die Gurgel.
Was war der Grund dafür?
Nachdem die UP den linken Flügel des PDC absorbiert hatte, wurde diese zu einer rechtslastigen Partei. 1971 ermordete dann die linksradikale bewaffnete Gruppe Vanguardia Organizada del Pueblo (VOP) den ehemaligen christdemokratischen Innenminister Edmundo Pérez Zujovic. Sie machten ihn für das Massaker von Puerto Montt verantwortlich, bei dem Polizisten zehn Hausbesetzer getötet hatten. Danach wurde jede Verständigung des PDC mit der UP unmöglich. Die Christdemokraten erkannten zwar an, dass die Regierung nicht hinter dem Attentat steckte, der PDC-Politiker und damalige Senatspräsident Patricio Aylwin Azócar sprach ihr aber eine Mitverantwortung zu. »Wenn so viel über den bewaffneten Kampf und Gewehre gesprochen wird, dann muss man sich nicht über diese Form der Gewalt wundern«, sagte er damals.
Viele Linke gehen davon aus, dass der Staatsstreich von 1973 schon seit der Wahl Salvador Allendes zum Präsidenten 1970 geplant worden sei. Sie vertreten hingegen die These, dass die Ereignisse des Oktober 1972 den Anlass für die Putschpläne lieferten. Was geschah damals?
Die UP begann recht erfolgreich und 1971 war ein sehr gutes Jahr für sie. Die Regierung brachte viel Geld in den Umlauf, um den Konsum zu fördern. Bei den Kommunalwahlen in dem Jahr gewann die UP fast 50 Prozent der Stimmen. Doch die Wirtschaftspolitik führte zu einer Superinflation und einer Verknappung der Grundnahrungsmittel. Das beschädigte das Verhältnis der Regierung zum chilenischen Bürgertum. Im Oktober 1972 traten dann die Spediteure in einen Generalstreik, dem sich bald Angestellte, Facharbeiter, Großindustrielle, Ärzte und Anwälte anschlossen. Das brachte die Regierung fast zu Fall. Damit war meiner Meinung nach das Projekt des chilenischen Wegs zum Sozialismus im Oktober 1972 gescheitert. Allende hatte keine Möglichkeit mehr, sein Programm umzusetzen.
Und das spricht gegen die These, dass das Militär einen Putsch seit 1970 geplant hatte?
Während meiner Recherchen bin ich – je nach Zählweise – auf zwölf oder 13 Umsturzversuche gegen die UP gekommen, von kleineren Verschwörungen bis hin zu bewaffneten Erhebungen. Doch sie alle scheiterten. Wieso? Weil die Streitkräfte von einem verfassungstreuen Oberkommando geführt wurden und sie niederschlugen. Doch am 11. September 1973 war das anders, das war ein institutioneller Staatsstreich, dem sich die gesamten Streitkräfte anschlossen. Dem war ein interner Putsch vorausgegangen, bei dem alle verfassungstreuen Generäle abgesetzt wurden.
»Die Vorstellung der militanten Linken, sich der Militärgewalt entgegenstellen zu können, war illusionär. Es wurde viel über den Kampf gegen den Faschismus geredet, aber die Linke verfügte weder über die Organisation noch die Mittel, um diesen ernsthaft aufzunehmen.«
Wie kam es dazu?
Entscheidend für die Geschehnisse innerhalb der Streitkräfte war der Putschversuch vom 29. Juni 1973. Dabei rückten Panzer bis vor den Präsidentenpalast vor, wurden jedoch von regierungstreuen Soldaten zurückgeschlagen. Seitdem bestand die Gefahr eines Bürgerkriegs, bei dem die Streitkräfte auseinanderbrechen und einander bekämpfen könnten, was bis zu eine Million Toten hätte führen können. Carlos Prats, der verfassungstreue Oberbefehlshaber der Streitkräfte, soll selbst diese Rechnung aufgemacht haben. Viele Offiziere entscheiden sich für die Option mit weniger Opfern: den Staatsstreich. Am 23. August trat Prats von seinem Amt zurück und empfahl Allende persönlich einen Nachfolger: Augusto Pinochet.
Die radikale Linke, insbesondere der Movimiento de Izquierda Revolucionaria (MIR) und die VOP, aber auch Teile des PS hatten den bewaffneten Kampf propagiert. Wie ernst konnte man das nehmen?
Das war Verbalradikalismus. Sie hatten zwar Waffen, aber sehr wenige. Der MIR unterhielt zum Beispiel eine Brigade, deren Auftrag es war, Präsident Allende zu schützen. Doch am Tag des Putsches erschienen sie nicht, weil sie die Lage für ausweglos hielten. Die Vorstellung der militanten Linken, sich der Militärgewalt entgegenstellen zu können, war illusionär. Es wurde viel über den Kampf gegen den Faschismus geredet, aber die Linke verfügte weder über die Organisation noch die Mittel, um diesen ernsthaft aufzunehmen.
Und die Linke sah den Staatsstreich nicht kommen?
In der Retrospektive ist es beeindruckend, dass anscheinend alle auf den Putsch warteten, während sie einander die Schuld an der Situation gaben. Selbst auf der Linken sprachen zu der Zeit alle von einem möglichen Putsch. Doch bestand eine Art Gleichgültigkeit gegen seine möglichen Folgen. Nur wenige schienen zu ahnen, welche Brutalität er mit sich bringen würde und dass er nicht nur die politische Linke zerschlagen würde, sondern das gesamte demokratische System.
Der Putsch war also nicht nur eine Folge der Polarisierung, sondern auch der inneren Widersprüche der Linken?
Das war Allendes Problem: Er konnte sich nicht entscheiden. Drei Wochen vor dem Putsch fragte Patricio Aylwin Azócar, der inzwischen nicht mehr Senatspräsident, nun aber Vorsitzender der Christdemokraten war, Präsident Allende bei einem Treffen: »Warum entscheidest du dich nicht, ob du in die Mitte oder nach links willst? Du kannst nicht mit uns und dem MIR zugleich zusammenarbeiten, mit deinen Genossen, die zum bewaffneten Kampf aufrufen, und mit der Armee.« Aber er entschied sich nie. Das war zunächst halbwegs gutgegangen, doch im August 1973 hatte er selbst im eigenen Lager keine Mehrheit mehr. Am Ende war Allende ein sehr einsamer Präsident, von all seinen politischen Unterstützern im Stich gelassen.
Alfredo Sepúlveda Cereceda ist chilenischer Journalist und Schriftsteller. Seit März 2020 ist er Direktor des Postgraduierten Bereichs der Fakultät für Kommunikation und Literatur der Universidad Diego Portales in Santiago de Chile. Er hat als Journalist und Redakteur für verschiedene Medien gearbeitet. Neben Kinderbüchern hat er Bücher über die Geschichte Chiles geschrieben. Im Juli 2020 erschien sein Buch »La Unidad Popular: Los mil días de Salvador Allende y la vía chilena al socialismo« (Die Unidad Popular: Die tausend Tage Salvador Allendes und der chilenische Weg zum Sozialismus) bei Penguin Books.