Eine Vorstudie zu sogenannter Pädophilie in der evangelischen Kirche

Missbrauch aufklären

Die evangelische Kirche lässt erstmals sogenannte Pädophilie in ihrer jüngsten Geschichte untersuchen. An der Berliner Humboldt-Universität ist nun eine Vorstudie erschienen, im Herbst soll die vollständige Studie folgen.

Anfang August hat die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, den Umgang der evangelischen Kirche mit Fällen sexualisierter Gewalt kritisiert. Anlass war insbesondere das Fehlen eines für die gesamte Kirche gültigen Regelwerks, welches festlegen würde, wie Betroffenen Anerkennungsleistungen gewährt werden. Im Gegensatz zur katholischen Kirche, die die Zahlungen bundesweit zu vereinheitlichen versucht, bleibe die Handhabung durch protestantische Institutionen unzureichend. »Noch immer gibt es auch regional Regelungen, wonach Betroffene, die Anerkennungszahlungen beantragen, nicht nur die Taten plausibel machen, sondern auch das institutionelle Versagen nachweisen sollen«, sagte sie der Rheinischen Post.

Bei Missbrauchsfällen liegt die Beweislast für die Gewalttaten unvermeidlich bei den Betroffenen, doch bei der evangelischen Kirche sollen sie darüber hinaus oftmals auch noch diejenigen institutionellen Mängel nachweisen, die das geschehene Unrecht begünstigt haben. Nach wiederholten sogenannten »Missbrauchsskandalen« in den vergangenen beiden Jahrzehnten und unzähligen Vorschlägen von Aufarbeitungsprojekten und Betroffenenverbänden zum Umgang mit den Folgen sexualisierter Gewalthandlungen in kirchlichen, staatlichen und pädagogischen Einrichtungen kann dieser Zustand schlicht als unhaltbar bezeichnet werden.

Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rolle der evangelischen Kirche bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche macht mittlerweile Fortschritte. Jüngst haben die an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) beschäftigten Erziehungswissenschaftlerinnen Jeannette Windheuser und Vivian Buchholz unter Mitwirkung von Beatrice Kollinger ein Konzept zur Erforschung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche vorgelegt. Es handelt sich um eine Vorstudie, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie vier der zwanzig Landeskirchen – jenen des Rheinlands, Hannovers, Hessens und Nassaus sowie Bayerns – finanziert wurde. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie bestimmte sexualpädagogische Vorstellungen Missbrauch in kirchlichen Institutionen begünstigt haben.

Kaum etwas dürfte die sexualpädagogische Profession der Gegenwart mehr fürchten, als wenn unmittelbare Verbindungen zwischen Sexualpädagogik ­und sexualisierter Gewalt gezeigt werden könnten. Denn die rechtsextreme Verunglimpfung moderner Sexualerziehung stützt sich – nebst der Ablehnung einer gleichberechtigten Thematisierung von Homosexualität und Regenbogenfamilien – vor allem auf den Vorwurf des gezielten Missbrauchs von Minderjährigen durch Sexualpädagoginnen und -pädagogen.

Das diesbezügliche Erbe, welches die Protagonisten des Aufbruchs der Reform- und Sexualpädagogik der sechziger und siebziger Jahre ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern hinterlassen haben, ist denkbar schwer. Die Berichte von Betroffenen sowie verschiedene historische Untersuchungen zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in reformpädagogischen Institutionen oder im Kontext einzelner sexualpädagogischer Projekte von den siebziger Jahren bis Anfang der nuller Jahre zeigen nämlich: Bundesweit bekannte Erziehungswissenschaftler wie Gerold Becker oder Helmut Kentler haben nicht nur sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen pädagogisch gerechtfertigt, sie haben sich zudem selbst Missbrauchshandlungen schuldig gemacht oder diese ermöglicht.

Netzwerke der Leugnung, Bagatellisierung oder Unterstützung haben diese ungeheuerlichen Vorgänge teils über viele Jahre hinweg gedeckt oder ermöglicht. Gerold Becker war von 1972 bis 1985 Leiter der Odenwaldschule, an der ein System sexueller Ausbeutung von Schülern herrschte. Der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Hinrich Claussen, kritisierte hierzu auf Zeit Online: »Diese fatale Schule war keine Einrichtung der evangelischen Kirche. Aber es gab protestantische Milieus und evangelische Eliten, die ihr das systemnötige Prestige verschafften.« So habe der Evangelische Kirchentag, wenn auch unwissentlich, dabei geholfen, die Schule vor Kritik zu schützen, indem er ihren wichtigsten Vertretern wiederholt eine Bühne geboten habe.

Der Sexualpädagoge Helmut Kentler glaubte, dass sich Pädosexuelle als Pflegeväter besser um ihre Schützlinge kümmern würden als andere Pflegeeltern.

Im Falle Helmut Kentlers gipfelte sein äußerst zweifelhaftes sexualpädagogisches Engagement im hochproblematischen sogenannten »Kentler-Experiment«, das eine Unterbringung von Kindern und Jugendlichen bei Pädosexuellen mit Duldung des Berliner Landesjugendamts organisierte. Kentler glaubte, dass sich diese Männer als Pflegeväter besser um ihre Schützlinge kümmern würden als andere Pflegeeltern. Er selbst war über die Bildungsarbeit eng mit der evangelischen Kirche verbunden, war Mitarbeiter evangelischer Einrichtungen und mehrmals als – polarisierender – Redner auf evangelischen Kirchentagen aufgetreten.

Doch den Forscherinnen am Institut für Erziehungswissenschaft der HU geht es nicht um einzelne Täter, auch stellen sie keinen Kausalzusammenhang zwischen Sexualpädagogik und Gewalt her. Vielmehr zielt ihr für die zukünftige Aufarbeitungsforschung erarbeitetes Konzept darauf ab zu verstehen, »inwiefern ein spezifisches Gefüge von Vorstellungen über Sexualität und Generationenverhältnis« sexualisierte Gewalt begünstigt oder beschränkt hat – sowohl in sexualliberalen als auch sexualkonservativen Umfeldern.

Die Quellen- und Recherchearbeit unter anderem in elf Archiven gibt der Vorstudie zufolge aber Hinweise auf eine ideologische und personelle Verantwortung der evangelischen Kirche für Missbrauchsfälle in ihren Reihen und legt zum Teil nahe, dass es eine überregionale Vernetzung von Vertretern einer Vermischung von Autoritäts- und Sexualbeziehungen gab.

Konzeptuell unterbreitet die Untersuchung den Vorschlag, die Sichtung von archivierten sexualpädagogischen Veranstaltungen und Debatten in der evangelischen Jugendarbeit mit Betroffeneninterviews zu kombinieren. Diese Interviews sollen nicht nur einzelne Tatverläufe und -dynamiken behandeln, sondern zudem mögliche sexualpädagogische (Rechtfertigungs-)Zusammenhänge in den Blick nehmen.

Während sich die Wissenschaftlerinnen davon eine komplexere Aufarbeitung der strukturellen Begünstigung von Missbrauch und Erkenntnisse zur Verbesserung von Prävention versprechen, bleiben ihre Ansätze an einzelnen anderen Stellen etwas unterkomplex. Es wird zum Beispiel nicht deutlich genug, was die Autorinnen mit Bezug auf ihre auch historische und begriffliche Forschungsarbeit unter »propädophilen« Positionen und Akteuren verstanden wissen wollen. Auch bleibt die Bestimmung der Psychodynamik von Betroffeneninterviews, ausgenommen die Vorschläge zu ihrer traumasensi­blen Durchführung, eher unscharf.

Bemerkenswert an der Studie von Windheuser, Buchholz und Kollinger sind die Ausführungen zum Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Forschung zu den Strukturen, Vorstellungen und Personenkreisen, die sexualisierte Gewalt ermöglichten, sei nicht gleichzusetzen mit der Aufarbeitung des Missbrauchs; die persönlichen und politischen Interessen, die auf das Thema gerichtet sind, deckten sich nicht automatisch mit denen der Wissenschaft. Als eine Abwendung vom Leid und vom Schmerz der Gewaltopfer in der evangelischen Kirche und anderen Einrichtungen ist diese Einordnung aber nicht zu verstehen.

Überzeugend legen die Autorinnen dar, wie entscheidend Empathie und Interesse für sowie Rücksicht auf die subjektiven Erfahrungen von Betroffenen sexualisierter Gewalt für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess in diesem Forschungsfeld ist. Dennoch halten sie fest: »Wissenschaft klärt den Sachverhalt auf, Aufarbeitung ist hingegen politischer, juristischer und ethischer Natur.« Diese Nüchternheit lassen andere Aufarbeitungsprojekte zum Thema sexualisierte Gewalt manchmal vermissen. Sie bleibt aber notwendig, um die schwierige Frage wissenschaftlich zu beantworten, warum es unter ganz verschiedenen gesellschaftlichen Bedingungen immer noch systematisch zu sexueller Gewalt kommen kann.