Die Geschichte der autogerechten Stadt

Der diskrete Charme der Siedlungszelle

Vor 90 Jahren entstand die Charta von Athen, die als theoretische Grundlage für die moderne Siedlungsentwicklung und die »auto­gerechte Stadt« der Nachkriegszeit gilt. Auf den westdeutschen Wiederaufbau allerdings hatte Albert Speers »Arbeitsstab für den Wiederaufbau bombenzerstörter Städte« wesentlich mehr Einfluss. In dessen Konzepten wurde die lange Geschichte bürgerlicher Großstadtfeindlichkeit um völkische Elemente ergänzt. Auch heutige Konzepte für den Umbau der autogerechten in eine fußgängerfreundliche »15-Minuten-Stadt« sind nicht frei von reaktionären gesellschaftspolitischen Vorstellungen.
Essay Von

Deutschen Stadt­plan­er:innen gilt Kopenhagen als leuchtendes Vorbild. Kaum ein Hoch­schulinstitut, kaum ein städtisches Planungsamt, das in den vergangenen Jahren nicht in die dänische Hauptstadt gereist ist, um von mehrspurigen »Super Highways« für Fahrräder oder vom Umbau vormaliger Industriehäfen in Wohnanlagen zu lernen. Keine Frage: Kopenhagen hat sämtliche deutschen Metropolen hinter sich gelassen auf dem Weg zu einer »grünen, gerechten und produktiven Stadt«, wie sie die sogenannte Neue Leipzig-Charta fordert. Dieses Strategiepapier für die künftige Entwicklung von Städten und Gemeinden in der Europäischen Union unterzeichneten 2020 während der deutschen Ratspräsidentschaft die zuständigen nationalen Minister:innen, es liest sich allerdings – nicht nur was die Zielerklärungen angeht – äußerst schwammig. Wohnungsbau- und Mietpolitik oder gar Bodenordnung spielen darin keine Rolle, dafür sind Schlagwörter wie »Digitalisierung«, »Transformation«, »Resilienz« und vor allem »Gemeinwohlorientierung« allgegenwärtig.

Dänische »Ghettos«
Dass die als vorbildlich gehandelte dänische Stadtplanungspolitik ihre ganz eigenen Schattenseiten hat, fällt bei so viel Begeisterung gern unter den Tisch. Die konservative Regierung des späteren Nato-Generalsekretärs und heutigen Investmentbankers Anders Fogh Rasmussen ließ 2004 erstmals eine sogenannte Ghettostrategie erarbeiten. Seit 2010 führt Dänemark auch eine »Ghettoliste«, in der zu Hochzeiten, nämlich 2018, 43 Wohngebiete aus dem gesamten Land geführt wurden. In den als Ghetto klassifizierten Gebieten sind Entmietungen und Zwangsumsiedlungen möglich; für Kinder gilt eine Kita-Pflicht ab dem ersten Lebensjahr; außerdem müssen die Kommunen stärkere Polizeipräsenz, höhere Strafen auch bei Bagatelldelikten und niedrigere Sozialleistungen veranlassen. Hinzu kommt ein widersinniges Anreiz- und Kürzungssystem für öffentliche Einrichtungen an Ort und Stelle.

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