Jörg Reichel, Deutschen Journalistenunion, im Gespräch über Angriffe auf Journalisten bei Demonstrationen

»›Smash the Cams‹ ist nicht emanzipatorisch«

Der Verdi-Gewerkschafter Jörg Reichel dokumentiert Angriffe auf Journalist:innen. Damit macht er sich vor allem, aber nicht nur bei Rechtsextremen unbeliebt. Ein Gespräch über Pressefreiheit und Vorwürfe aus der linken Szene.
Interview Von

Seit 2020 begleiten Sie Demonstrationen und dokumentieren Übergriffe auf Journalist:innen. Nach einer »Querdenken«-Demonstration 2021 sind Sie auch körperlich angegriffen worden. Warum machen Sie das überhaupt?
Journalist:innen haben uns von den Zuständen auf den Coronademos berichtet; dass sie an der Arbeit gehindert und körperlich angegriffen werden. Diesen Journalist:innen, darunter viele Freelancer:innen, die schwerpunktmäßig über radikale Gruppen berichten, wollten wir als Gewerkschaft helfen.

Ich wette, es gibt entspanntere Aufgaben bei Verdi …
Wenn Probleme an uns herangetragen werden, versuchen wir, sie zu lösen. Es gehört auch ein Stück weit zu meinem Selbstverständnis, dass wir uns bemühen, positiv etwas zu verändern und bei Druck nicht zurückweichen. Und dass gegen Gewerkschaftsarbeit Druck ausgeübt wird, das gibt es auch in anderen Branchen.

Druck kam bislang meistens von rechts. In den vergangenen Wochen gab es aber Anfeindungen, auch einen körperlichen Angriff, gegen sie von linksradikalen Gruppen. Worum geht es da aus Ihrer Sicht?
Zuletzt ging es um die feministische Demo »Take back the night« am Vorabend des 1. Mai und eine Kundgebung zum »Nakba«-Gedenken auf dem Oranienplatz am 20. Mai. Auf beiden Versammlungen sind Journalist:innen angegriffen worden. Ich habe das dokumentiert. Das gefällt nicht allen.

Der Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« wirft Ihnen vor, es gehe Ihnen nicht um Gewerkschaftsarbeit, sondern um politischen Aktivismus. Sie wollten gezielt »Fälle von ›Pressefeindlichkeit‹ provozieren, um sie als Grund für Einschränkungen und Verbote für die Polizei zu liefern«, hieß es.
Das ist falsch. Wir dokumentieren Übergriffe unabhängig vom Versammlungsthema, weil wir ein umfassendes Bild zeichnen wollen. Bei der Nakba-Demo gab es fünf Angriffe auf Jour­na­list:in­nen, vier von Demonstrierenden, einer von der Polizei. Der Verein deutet diese Fakten um, um sich selbst zum Opfer zu stilisieren. Ähnliches kennen wir von den Coronaprotesten: Der »Demokratische Widerstand« hat behauptet, Übergriffe auf Jour­na­list:in­nen seien fingiert und ich sei Anführer dieser Gruppe. Widerspruch gegen die Angriffe auf der Nakba-Demo gab es kaum. Nur der Linkspartei-Politiker ­Ferat Koçak hat die Feindseligkeit in einem Tweet verurteilt. Widerspruch gegen eine vermeintliche Verschwörung gab es bisher allerdings nicht.

An der feministischen Demo am 30. April haben Sie kritisiert, dass männliche Journalisten von der Berichterstattung ausgeschlossen sein sollten. In einem anonymen Text auf der linken Plattform Indymedia hierzu heißt es, Pressefreiheit sei eine bürgerliche Freiheit und dürfe nicht über das »Prinzip von Bewegungspolitik« gestellt werden. Wer das tue, sei »nichts weiter als ein liberaler Wicht und unser politischer Feind«. Wie sehen Sie das Verhältnis von linksradikalen Bewegungen und Presse?
Das Verhältnis von Presse und sozialen Bewegungen ist antagonistisch. Aber Pressefreiheit ist keine »bürgerliche Freiheit«, sondern wurde hart erkämpft. Heute ist sie das Recht eines jeden Menschen und gilt letztlich auch für die Kritiker:innen jeder Versammlung. Einzelne linksradikale Gruppen sehen das offenbar anders. Der Begriff »bürgerliche Presse« dient hier allein der Denunziation.

Auf der Demo »Take back the night« sollte die Versammlung einen geschützten Raum bieten. Der Vorwurf war zunächst, dass cis-männliche Journalisten diesen störten. Ist das nicht plausibel?
Freiräume zu schaffen, in der kapitalistische Verwertungslogiken und Geschlechterhierarchien nicht gelten, dafür streiten emanzipatorische Bewegungen schon lange. Aber das kann nicht auf Kosten der Pressefreiheit gehen. In derselben Erklärung auf Indymedia hieß es auch, es gebe kein Pro­blem mit Berichterstattung – »aber bitte im Einklang mit unseren Bedürfnissen«. Das kann aber nicht der Maßstab für Journalismus sein. Ich sehe hier einen politischen Widerspruch.

Wieso?
Demonstrationen transportieren politische Botschaften in die Öffentlichkeit. Ein Freiraum, in dem man die vermeintlich gegnerische Presse ausschließt, folgt einer Wohlfühllogik, die auf den Ausschluss von allem Unlieb­samen zielt.

Fotos können auch für Akti­vist:in­nen Probleme bedeuten, zum Beispiel für Anti­faschist:innen. Wie kann man diesem Problem angemessen begegnen?
Der antifaschistische Selbstschutz wird seit über hundert Jahren entwickelt. Mein Eindruck ist, man weiß schon, wie man sich schützt. Professionelle Jour­nalist:innen wissen auch, wie sie das Persönlichkeitsrecht von Demonstrierenden schützen. Aber in den Fällen, über die wir sprechen, geht es doch gar nicht darum. Auf dem Oranienplatz zum Beispiel hat eine Rednerin die »dritte Intifada« gefordert. Diese Grenzüberschreitung haben Jour­na­list:in­nen dokumentiert, das stört den autoritären Deutungsanspruch mancher Gruppen.

Welche Gruppen meinen Sie?
Schaut man sich LGBT- und Tierrechtsbewegung, Hausbesetzungen, Antirassismus, Antifa- und Klimabewegung an, dann zeigt sich: Nur der allerkleinste Teil ist aggressiv und pressefeindlich. Das sind einzelne, benennbare Gruppen. Was sie eint, sind antisemitische Elemente und ein rückwärtsgewandter Theoriemix. Ein Beispiel: Auf dem Oranienplatz wehten Flaggen der Linkspartei und der zur PFLP gehörenden palästinensischen Gruppe Samidoun nebeneinander. Es muss doch Konsens in demokratischen Parteien sein, dass man nicht mit Gruppen zusammenarbeitet, die Antisemitismus propagieren und islamistischen Terror verharmlosen.

Sie sind in den vergangenen Jahren vermutlich auf fast jeder größeren Versammlung in Berlin gewesen, auch von linken Gruppen. Kennen Sie die Angreifer:innen?
Einzelne Täter:innen, die Jour­na­list:in­nen bedrängen, sind bekannt. Aber die meisten wissen gar nicht, wen sie konkret angreifen. Sie folgen Gerüchten und sehen in Journalist:innen etwas, das sie grundsätzlich ablehnen. In der Analyse rechter Gewalt nennt man das »Botschaftstaten«. Ich halte es für erwägenswert, ob man den Begriff auch für solche Angriffe verwenden kann. Denn es bleiben in der Struktur antisemitische Metaphern, die Verschwörungsszenarien konstruieren – bloß das Gerücht von Fall zu Fall wechselt: Bei Pegida war es die »Lügenpresse«, woanders »Zionistenpresse«, oder »bürgerliche Presse«. Wortführer der Gruppen wissen sehr genau, was sie mit dieser Feindmarkierung bewirken. An anderer Stelle können sie ja auch differenzierter argumentieren. Das hat nichts mit emanzipatorischen Protest zu tun und »Smash the Cams« (»Zerschlagt die Kameras«) als politische Strategie ist auch nicht emanzipatorisch.

Als linke Aktivist:innen 2021 Regenschirme vor eine Kamera von ­Ruptly aufgespannt haben, einem Ableger des staatlichen russischen Auslandssenders RT Deutsch, haben Sie das als Behinderung der Presse eingeordnet. Wo ziehen Sie die Grenze zwischen Journalismus und Propaganda?
2021 gab es zwei Vorfälle, die Ruptly betrafen. Einmal wurde ein Team mit einem Schirm bedrängt, ein anderes Mal mit Fahnenstangen geschlagen. Es ist legitim, wenn sich Demonstrierende mit Schirmen oder Transparenten vor Kameras abschirmen, jede Art von physischer Gewalt oder Bedrängungen gegen Kameraleute ist es aber nicht. Dass RT Deutsch als Gesamtes ein In­strument der russischen Staatspropaganda ist, ist unstrittig.

»Pressefreiheit ist keine ›bürgerliche Freiheit‹, sondern wurde hart erkämpft. Heute ist sie das Recht eines jeden Menschen und gilt letztlich auch für die Kritiker:innen jeder Versammlung.«

Journalismus darf aber auch eine Tendenz haben. Wer sich an den Pressekodex hält, journalistische Formate bedient und nicht aktivistisch auftritt, kann Journalist:in sein. Es ist auch egal, ob jemand das als Vollzeitjob macht, ob er eine Redaktion hinter sich hat oder nicht.

Aber dass man auf linken Demos nur ungern Ruptly, die Meinungsshow »Achtung, Reichelt!« des ehemaligen Chefredakteurs der Bild-Zeitung oder rechte Streamer haben will, ist doch nachvollziehbar, oder?
(Holt lange Luft) Pressefreiheit heißt auch, dass rechte Medien wie Tichys Einblick oder die Junge Freiheit publizieren dürfen. Pressefreiheit ist auch das Recht von Julian Reichelt, so zu wirken, wie er will – solange er dabei keine Straftaten begeht. Ich glaube zudem, im Fall von Reichelts neuer Firma Rome Medien ist aktuell nicht zu sehen, wie sich das finanzieren soll.

Der Markt soll das Problem regeln?
Ist der Markt ein fairer Schiedsrichter? Nein. Will man einen Staat, der Schieds­richter über die Pressefreiheit ist? Nein. Aber unter den herrschenden Verhältnissen gibt es realistisch nur diese Rahmenbedingungen. Es gibt problematische Positionen, wie sie auch bei Springer-Medien durchscheinen, es gibt Kampagnen, die geistige Brandstiftung und komplett verantwortungslos sind. Aber das muss gesellschaftlich ausgehandelt werden. Man kann reaktionäre Medien ignorieren, von der Diskussion ausschließen oder ihnen widersprechen. Aber das berührt nicht das Recht, journalistisch zu arbeiten. Pauschale »Berufsverbote« sind demokratisch nicht machbar und könnten sich jederzeit auch gegen andere richten.