Die Geschichtsmythen der Kampagne »Nakba 75«

Katastrophale Geschichtspolitik

Die Kampagne »Nakba 75« nutzt das Gedenken an die palästinensischen Opfer des Kriegs von 1948, um einseitige Geschichtsmythen zu propagieren.
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Der erste arabisch-israelische Krieg begann direkt nach der Staatsgründung Israels. 1948 griff eine Koalition aus Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und dem Irak den jungen jüdischen Staat an. In der israelischen Geschichtsschreibung gilt der Krieg als Unabhängigkeitskrieg. Auf arabisch-palästinensischer Seite werden die Ereignisse des Krieges als »Nakba« bezeichnet, als Katastrophe.

Mehrere Hunderttausend im vormaligen britischen Mandats­gebiet Palästina ansässige Araber flohen damals in die umliegenden Länder. Ihre Nachkommen leben dort zum Teil bis heute als Bürger zweiter Klasse. Im Zuge der Kriegshandlungen kam es zu Vertreibungen und Morden an der arabischen Bevölkerung durch israelische Soldaten.

Das heutige Gedenken an die »Nakba« geht allerdings über die Erinnerung an die palästinensischen Opfer hinaus. Es stellt den Gründungsmythos der palästinensischen Nationalbewegung dar, dem zufolge die Staatsgründung Israels an sich ein Verbrechen war. Was auf der israelischen Seite als erfolgreicher Kampf ums Überleben gegen die angreifenden arabischen Staaten, als Erschaffung einer jüdischen Heimstatt und damit eines sicheren Hafens für die Überlebenden des Holocaust angesehen wird, gilt auf der anderen Seite als Kampagne zur ethnischen Säuberung.

Diese Interpretation der Ereignisse ist der Kern des palästinensischen Nationalismus. 2004 hat Yassir Arafat den 15. Mai offiziell zum »Nakba-Tag« erklärt. Weltweit finden aus diesem Anlass Demonstrationen statt. In Berlin wurde jedoch vergangenes Jahr mehrere Demonstrationen zum »Nakba-Tag« verboten, mit der Begründung, dass auf antizionistischen Demonstrationen in Berlin immer wieder antisemitische Parolen skandiert worden seien, es zu Relativierungen des Holocaust und zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Journalisten und Polizisten gekommen sei.

Die Kampagne »Nakba 75« präsentierte sich vor allem als Reaktion auf dieses Verbot. Sie sollte am Samstag in einer großen Demonstration zum 75 Jahrestag der »Nakba« münden, unter dem Motto »Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht«. Kurzfristig wurde auch diese Demonstration verboten. Dafür fand am Samstag eine kleinere Versammlung in Berlin-Kreuzberg statt.

Die Kampagne hatte Unterstützung durch Vertreter des linken bis linksradikalen Milieus gefunden, inklusive der Linkspartei Neukölln. Für die Organisatoren ist es besonders wichtig hervorzuheben, dass auch Juden das Anliegen unterstützen. Dabei handelt es sich primär um den Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost«, der in Berlin schon lange mit antizionistischen Gruppen kooperiert.

Das heutige Gedenken an die »Nakba« geht allerdings über die Erinnerung an die palästinensischen Opfer hinaus. Es stellt den Gründungsmythos der palästinensischen Nationalbewegung dar, dem zufolge die Staatsgründung Israels an sich ein Verbrechen war.

Bereits seit Wochen war »Nakba 75« in den sozialen Medien aktiv gewesen. Dort zeigte sich, dass es der Kampagne keineswegs nur um »Meinungsfreiheit« geht. In zahlreichen Posts und Videos suggeriert sie, dass Israel als kolonialistisches Unternehmen zu begreifen und zu bekämpfen sei. In einem Video wird erklärt, »Nakba« bezeichne »den Überfall der Zionisten auf Palästina«. Deutschlands »Treue zu Israel und zum Zionismus« und der Versuch, »diese Treue im Bildungssystem einer neuen Generation beizubringen,« sei »Rassismus«, propagiert man in einem anderen. »Befreit Palästina von deutscher Schuld« wird in einem Post als ein »wichtiger Slogan für die diesjährigen Aktionen« präsentiert.

Für sich sprechen auch Videos und Bilder, die versuchen, darzulegen, warum antisemitische Slogans wie »From the river to the sea, Palestine will be free« eben nicht antisemitisch seien und nicht das Existenzrecht Israels in Frage stellten. Solche Slogans wurden in der Vergangenheit immer wieder auf palästinensischen Demonstrationen gerufen.

Bei der Ersatzdemonstration am Samstag in Berlin-Kreuzberg rief eine Rednerin ins Mikrophon: »Wir sind die erste Intifada, wir sind die zweite Intifada, und wir werden auch die dritte Intifada sein.« Um solche Äußerungen abzutun, wird oft behauptet, Intifada bedeute auf Arabisch ja lediglich »Aufstand«. Das ist absurd. Die sogenannte Zweite oder al-Aqsa-Intifada war eine religiös aufgeladene, systematische Kampagne von Selbstmordattentaten auf ­israelische Zivilisten, bei der mehr als 1 000 Israelis umgebracht wurden.

Der »Nakba-Tag« ist der palästinensische Kampftag und von zentraler Bedeutung für antiimperialistische Linke. Dass die arabische Allianz den Krieg zur Vernichtung des jüdischen Staates anfing, dass die arabischen Führungen jeglichen Kompromiss zur Schaffung eines jüdischen und eines arabischen Staates auf dem Territorium des ehemaligen Mandatsgebiets ausschlugen, sich kategorisch gegen die Etablierung einer jüdischen Heimstatt aussprachen und entsprechend handelten, darf keine Erwähnung finden, weil das den Kern des palästinensischen Nationalismus in Frage stellen würde. Ebenso wird regelmäßig ignoriert, dass nach 1948 Hunderttausende Juden aus den arabischen Ländern vertrieben wurden oder Pogromen zum Opfer fielen.

Eine differenzierte historische Einordnung der Ereignisse von 1948 ist wünschenswert und notwendig, wird aber die Neigung zu antisemitischen Ausschreitungen nicht dämpfen. Diese sind zu verurteilen und sollten im Zentrum der Auseinandersetzung um den »Nakba-Tag« stehen. Gerade auch, weil die »Nakba«-Proteste Unterstützung durch deutsche Linke finden.