13.04.2023
Die Darstellung der KPD und die Version der nieder­ländischen Rätekommunisten

Rotbuch gegen Braunbuch

Die Kommunistischen Parteien denunzierten den wegen des Reichstagsbrands angeklagten Marinus van ­der Lubbe im 1933 veröffentlichten »Braunbuch« als Werkzeug der Nationalsozialisten. Seine Genossen reagierten darauf mit dem »Rotbuch«, in dem sie die politischen Gründe für seine Tat erläuterten.

»Es interessiert uns nicht, es interessiert Marinus van der Lubbe nicht, wie das Bürgertum uns beurteilt«, schrieben die Mitglieder des Internationalen Van-der-Lubbe-Komitees, die 1933 in Amsterdam das »Roodboek« (Rotbuch) herausgaben. Dieses Bürgertum saß aus Sicht der Verfasser ab dem 21. September 1933 in Leipzig über ihren Genossen im sogenannten Reichstagsbrandprozess zu Gericht. Mit dem niederländischen Rätekommunisten van der Lubbe, der irgendwann Anfang der dreißiger Jahre aus der Kommunistischen Partei Holland (CPH) ausgetreten war, saßen stellvertretend für den Kommunismus im Allgemeinen auf der Anklagebank: Ernst Torgler von der KPD sowie die drei Mitglieder der Bulgarischen Kommunistischen Partei, Georgi Dimitroff, Blagoi Popow und Wassil Tanew.

Gegen die mit dem Brand des Reichstags einsetzende Nazipropaganda, der Reichstagsbrand sei als Auftakt zu einem kommunistischen Aufstand anzusehen, den die Nationalsozialisten in der Folge zu verhindern hätten, wehrte sich die KPD im Exil mit einem Gegenpropagandaprojekt: dem »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror«, das bereits am 1. August erschien und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. In diesem Buch betonte die KPD die Unschuld ihrer angeklagten Parteigenossen, denunzierten jedoch Marinus van der Lubbe. Die Nazis hätten den Reichstag mit seiner Hilfe in Brand gesteckt, um ihn den Kommunisten anzulasten, so die These.

Mögliche politische Motive van der Lubbes für seine Tat stellte die KPD in Abrede. Im Braunbuch konzentrierten sie sich stattdessen auf sein Privatleben. Sie entwarfen ein Persönlichkeitsprofil van der Lubbes, »das die schlimmsten psychiatrischen Vorurteile des 19. Jahrhunderts widerspiegelt«, so die Publizisten Charles Reeve und Yves Pagès in ihrem Essay »La véritable histoire de l’incendiaire du Reichstag«. Van der Lubbe sei »prahlerisch«, »hochmütig« und »ehrgeizig« – »charakterliche Todsünden, die durch die Folgen eines Arbeitsunfalls pathologisch geworden seien«.

»Nur eine proletarische Untersuchung ist in der Lage, die Wahrheit über den Reichstagsbrand und das Arbeiterinteresse daran zum Vorschein zu bringen.«
Aus dem »Rotbuch« von 1933

Ferner sei es die »monströse Kombination aus einer physiologischen Behinderung (Blindheit) und einer Neigung (blind machender Größenwahn), die ihn in den Archetyp des geborenen Kriminellen verwandelt«, so Reeve und Pagès über die Darstellung im »Braunbuch«. Ergänzt werde das »durch die typisch leninistische Unterscheidung zwischen dem vorbildlichen Fabrikarbeiter, der der Parteilinie treu ist, und seinem feindlichen Bruder, dem Subproletarier. Der halbblinde Vagabund und Sohn eines Alkoholikers, Marinus, entspricht somit der Typologie des asozialen Degenerierten des frühen Industriezeitalters.«

Im Braunbuch heißt es über van der Lubbe: »Parallel mit dieser Verbohrtheit geht eine merkwürdige Weichheit, wie sie bei Homosexuellen oft zu finden ist.« Die Kommunisten denunzierten van der Lubbe als homosexuellen »Lustknaben« des SA-Führers Ernst Röhm.

Detaillierte Schilderungen des Terrors in Deutschland
Doch war das Braunbuch mehr als nur ein Angriff auf die Person van der Lubbe. Es enthielt detaillierte Schilderungen des Terrors in Deutschland und war Teil einer internationalen kommunistischen Kampagne gegen die Nazis. An der Erstellung des Buches waren erfahrene Journalisten und Schriftsteller beteiligt, die versuchten, möglichst viele Informationen über die sich formierende Diktatur in Deutschland zu sammeln. »Alle Zeitungen der Welt wurden auf Nachrichten aus Deutschland durchstöbert. Emissäre, die nichts zu riskieren hatten, wurden ins Reich gesandt. Neue Flüchtlinge, derer wir habhaft werden konnten, wurden eingeladen, ihre Erlebnisse zu schildern«, erinnerte sich später der Schriftsteller Gustav Regler, der im Braunbuch die Foltermethoden in den im Frühjahr 1933 eingerichteten Konzentrationslagern beschrieb.

Der Verleger Willi Münzenberg übernahm in Paris die Leitung des Braunbuchprojekts und organisierte im Dienste der Komintern (Kommunistische Internationale) antifaschistische Propagandaaktivitäten wie das »Weltkomitee gegen Krieg und Faschismus«, dessen Präsident ab 1935 Heinrich Mann war. Gemeinsam mit nichtkommunistischen Persönlichkeiten gründete er antifaschistische Organisationen, in denen die eigentliche Führung dennoch in der Hand der Stalinisten lag.

Dieser Strategie entsprach auch die am 4. September 1933 in London eröffnete »Internationale Untersuchungskommission zur Aufklärung des Reichstagsbrandes«, ein öffentliches Tribunal, das als »Gegenprozess« zum kurz darauf in Deutschland beginnenden Reichstagsbrandprozess konzipiert war. Eröffnet wurde das Tribunal vom Labour-Politiker Sir Richard Stafford Cripps, es beteiligten sich international angesehene Rechtsanwälte und Politiker. Am 20. September, einen Tag vor Beginn des Prozesses in Deutschland, erging das Urteil: Die angeklagten Kommunisten seien unschuldig, van der Lubbe hingegen ein willfähriges Werkzeug der Nazis gewesen. Mit dieser Gegenkampagne gelang es den Stalinisten, die internationale Öffentlichkeit zu beeinflussen, bevor die Nazis den Prozess gegen die Angeklagten eröffnen konnten.

Während im Braunbuch der Komintern alle Register gezogen werden, um ihre Genossen vor Gericht zu entlasten, und mehr als eine halbe Million Ausgaben gedruckt wurden, verfassten die Genossen van der Lubbes zu seiner Verteidigung das sogenannte Rotbuch, ein Pamphlet, das man für 10 Cent in den Niederlanden auf dem Markt erstehen konnte. Auf Deutsch erschien es erstmals 1983, 50 Jahre nach van der Lubbes Hinrichtung.

Denkender und handelnder Kommunist
»Das Rotbuch will keineswegs ein Versuch sein, um beim Bürgertum eine mildere Stimmung hinsichtlich van der Lubbe entstehen zu lassen«, so die Herausgeber. Ihr Interesse sei es nicht, den Genossen – zumal er seine Tat gestanden hatte – vor einem bürgerlichen Gericht zu entlasten. Vielmehr sollte das Rotbuch die bescheidene Antwort der Rätekommunisten auf die Denunziation ihres Genossen und seiner politischen Vorstellungen durch die KPD sein – »die feige Verleumdungskampagne« und »die antiproletarischen Absichten« dahinter sollten entlarvt werden. Im Gegensatz zum Braunbuch, das unter der Beteiligung internationaler Prominenz entstanden war, betonten die Herausgeber des Rotbuchs, die »Tatsachen in loyaler Zusammenarbeit ausschließlich mit Arbeitern gesammelt« zu haben. »Nur eine proletarische Untersuchung ist in der Lage, die Wahrheit über den revolutionären Proletarier van der Lubbe, den Reichstagsbrand, die Motive der Tat und das Arbeiterinteresse daran zum Vorschein zu bringen.«

Die niederländischen Rätekommunisten machten sich daran, belastende Aussagen vermeintlicher oder tatsächlicher Weggefährten van der Lubbes aus dem Braunbuch mit Dokumenten und selbst eingeholten Zeugenaussagen zu widerlegen, auch druckten sie Briefe von ihm ab, teils aus der Haft, die seine antifaschistische Einstellung belegten. Hinzugefügt sind dem Buch Auszüge aus van der Lubbes Reisetagebuch von 1931, in dem er seine Eindrücke aus Deutschland festhielt. Diese Texte, die ihn als denkenden und handelnden Kommunisten zeigen, kontrastieren mit seiner Darstellung als unzurechnungsfähigem Verführten.

Im Hauptteil des Buchs verhandeln die Herausgeber die Frage, warum die deutsche Arbeiterklasse den Aufstieg des Nationalsozialismus so weitgehend passiv zuließ. Das Rotbuch war somit auch ein Beitrag zu einem Grundsatzstreit um den Kommunismus und die proletarische Revolution. »Und so wird deutlich, warum all die Humanisten der Moskauer Internationale in Einheitsfront mit der gesamten übrigen bürgerlichen Welt ihre giftigen Laster gegen Marinus van der Lubbe hartnäckig behaupten und das Braunbuch auch in dem Zeichen des Kampfes gegen die revolutionäre Idee setzen, Kampf gegen die Mündigsprechung der Arbeiterklasse, gegen das selbständige Auftreten des Proletariats, gegen den Mann, der sein junges Leben einsetzte, um den Schein der Parteidisziplin mit einer TAT zu zerschmettern!« heißt es.

Dass man die Besonderheit des deutschen Faschismus zu dieser Zeit nicht erkannte, teilen die Rätekommunisten mit dem Rest der Welt.

Die unter der Kontrolle der UdSSR stehenden Kommunistischen Parteien der Komintern hatten in den Augen der Rätekommunisten längst ihre Verbindung zum Proletariat verloren, die KPD das deutsche Proletariat zur Passivität erzogen, bis ihr selbst nichts wei­ter übrigblieb, als ins Exil zu gehen. Obwohl sie den dokumentarischen Teil des Braunbuchs über die Verbrechen der Nazis lobten, sahen sie die Strategie der Exilkommunisten, mit nichtkommunistischen Kräften ein Bündnis für einen Antifaschismus ohne proletarische Revolution zu suchen, folgerichtig als Verrat an:

»Diese Führer stehen jetzt, nach ihrer schmählichen Entlassung durch ihre eigene Bourgeoisie und Ersetzung durch die Nazis, in einem Dienstverhältnis mit anderen Kapitalgruppierungen, und führen einen Kampf gegen den Hitler-Faschismus. Gerade weil der Kampf nicht gegen alle Formen des Faschismus geht, sondern sehr speziell gegen den Faschismus, der durch die deutsche Bourgeoisie benutzt wird, kann das Braunbuch nicht nur eine Anklage gegen den Nationalsozialismus sein, sondern es mußte zugleich ein Propagandamittel für die weitere Faschisierung der noch sogenannten demokratischen Länder sein.«

Tatsächlich zeige die antifaschistische Kampagne nur, »daß hier eine internationale Front dabei ist, sich zu formieren. Der französische, der englische und der amerikanische Imperialismus sowie die satte Bourgeoisie Hollands bilden, im Verein mit der neuen Stalin-Bourgeoisie, eine Front gegen den mitteleuropäischen Block und Italien.« Dass man die Besonderheit des deutschen Faschismus zu dieser Zeit nicht erkannte, teilen die Rätekommunisten allerdings mit dem Rest der Welt.

Einen Freispruch für van der Lubbes Mitangeklagte forderten sie ebenfalls. »Es ist unsere feste Überzeugung, daß diese vier Männer freigesprochen werden müssen, wenn die Herren Richter diesen ganzen Prozeß nicht zu einer widerwärtigen Justizkomödie machen wollen.« Am 23. Dezember 1933 wurde van der Lubbe vom Reichsgericht in Leipzig für schuldig befunden, am 10. Januar 1934 hingerichtet. Die anderen Angeklagten wurden mangels Beweisen freigesprochen.