»Brasilien ist polarisiert«
Die Regierung von Jair Bolsonaro ist seit etwas mehr als 60 Tagen Geschichte. Wie haben Sie seine rechte Präsidentschaft erlebt?
Ich denke, dass diese vier Jahre für alle Journalisten sehr schwierig waren. Ich zum Beispiel als Direktor einer Menschenrechtsorganisation bin mehrfach auf offener Straße mit Mord bedroht worden. Brasilien ist polarisiert, das Land hat sich verändert und es wird dauern, bis wir diese Jahre verdaut und aus ihnen gelernt haben.
Wie denken Sie über die ersten Maßnahmen der neuen Regierung von Luiz Inácio Lula da Silva, der betont, Präsident aller Brasilianerinnen zu sein?
Lula da Silva hat schon im Wahlkampf versöhnliche Töne angeschlagen. Er hat konsequent auf den Angriff auf die Demokratie am 8. Januar reagiert, als Anhänger Bolsonaros das Regierungsviertel in Brasilia verwüsteten, und ich halte Maßnahmen wie der Personalwechsel bei der staatlichen Rundfunkanstalt oder die Einrichtung der Beobachtungsstelle gegen Gewalt gegen Journalisten für überfällig. Berichterstatter werden immer öfter direkt angegriffen – nicht nur verbal in den sozialen Medien. Allerdings musste die neue Regierung schnell reagieren und die Maßnahmen ad hoc treffen, es gab wenig Vorbereitungszeit. Daher orientierte man sich an anderen Ländern wie Deutschland, wo gegen direkte Drohungen auf den sozialen Plattformen vorgegangen wird. Aber die Konstellation in Brasilien ist eine andere, hier ist das Klima vergiftet, das Niveau von Hass und Intoleranz in den sozialen Netzen immens, hinzu kommen fake news. Die ersten Maßnahmen, die darauf abzielen, die sozialen Plattformen in die Verantwortung zu nehmen, User zu sanktionieren, die zur Gewalt aufrufen, sind interessant. Aber reichen sie aus?
Sie leiten die NGO Repórter Brasil, die Menschenrechtsverletzungen aufdeckt, Verstöße gegen das Arbeitsrecht in Lieferketten oder gegen die territorialen Rechte indigener Gemeinden aufspürt. Standen Sie in den vergangenen vier Jahren unter finanziellem Druck?
Druck gab es, aber keine Engpässe. Unsere finanzielle Situation war in den Bolsonaro-Jahren stabil, was daran liegt, dass das Gros unser Mittel in erster Linie aus dem Ausland kommt, unter anderem aus den USA. Wir kooperieren mit internationalen Organisationen wie der Christlichen Initiative Romero, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und Stiftungen wie der Heinrich-Böll-Stiftung und waren daher nicht so verwundbar wie andere Organisationen. Wir konnten unsere Arbeit aufrechterhalten, national sowie international informieren und so unseren Beitrag für die Redemokratisierung des Landes leisten. 2010 haben wir erkannt, dass wir angreifbar sind, dass uns eine konservative, reaktionäre Regierung die investigative, analytische und journalistische Arbeit erschweren kann. Daraufhin haben wir uns bis 2013 neu ausgerichtet und unabhängiger gemacht, gute Beziehungen in mehrere Länder aufgebaut, so dass uns politische Turbulenzen in Brasilien weniger anhaben können.
Also war Repórter 2018 gewappnet für die Wahl eines erzreaktionären Präsidenten?
Ja, mehr oder weniger. Wir sind finanziell unabhängiger als früher, international besser vernetzt – das ist sehr wichtig, wenn man mit politisch brisanten Themen zu tun hat. Wir forschen zu Kinderarbeit, zu sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnissen, zur Verletzung der Grund- und Territorialrechte von indigenen Gemeinden, zu Rassismus – dabei dreht sich vieles um dezidiert ökonomische Interessen. Das betrifft die ökonomische Führungsschicht des Landes, die immer wieder gegen Journalisten vorgegangen ist, die für sie unbequeme Wahrheiten aufgedeckt haben. Repórter Brasil ist bereits lange vor Bolsonaro angegriffen worden: von Großgrundbesitzern, von Viehzüchtern, der Sojalobby, den Zuckerproduzenten. Wir sind vom Start weg als NGO angegriffen und auch angeklagt worden. Ich persönlich bin als Direktor seit 2014 mehrfach physisch angegriffen worden, Bedrohungen sind für mich online Alltag. Auf der Straße habe ich direkte Morddrohungen erhalten, neben den unzähligen anonymen im Netz.
Hat sich das mit dem Amtsantritt von Jair Bolsonaro verstärkt?
Leider ja. Es wurde versucht, unsere Zentrale in São Paulo zu stürmen. Daher mussten wir letztlich umziehen. Auf allen Ebenen hatte der Druck zugenommen, die Anhänger Bolsonaros sind überaus aktiv und zum Teil gewalttätig – das hat der 8. Januar gezeigt.
Für welche Maßnahmen plädieren Sie noch?
Für eine genaue Analyse der Auswirkungen und eine eventuell notwendige Modifizierung der bisherigen Maßnahmen. Was ist an Regulierung im Netz nötig bei gleichzeitiger Wahrung der Meinungsfreiheit? Das ist die zentrale Frage. Die extreme Rechte in Brasilien nutzt ihre demokratischen Grundrechte, um die von anderen Menschen zu verletzen. Die Intoleranz droht die Toleranz abzuwürgen.
Journalisten sind in Brasilien gefährdeter als früher. Wie kann man sie besser schützen?
Wichtig ist, dass die Institutionen ihre Arbeit machen, Polizei, Staatsanwaltschaft, Ermittlungsstellen, Gerichte. Dafür ist deren Ausstattung ein wichtiges Kriterium. Stehen Fonds für Ermittlungen zur Verfügung, hat der Polizeiwagen Benzin, können die Inspektoren in abgelegene Ortschaften reisen? Mit derart essentiellen Fragen hatten wir es in den letzten Jahren immer wieder zu tun, denn die Etats der Ombudsstelle für Grundrechte, der Procuradoria Geral, oder im Arbeitsministerium wurden rigoros zusammengestrichen. Es geht sogar noch weiter, denn kritische Journalisten, darunter auch ich, wurden von staatlichen Institutionen observiert, deren Aufgabe der Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit ist. Heute geht es wieder in die richtige Richtung, aber es ist extrem wichtig, diese Institutionen und Prozesse zu beobachten, zu analysieren und vor Fehlentwicklungen zu warnen.
Werden Berichterstatter nun, unter Lula da Silva, mehr dabei unterstützt, über extrem polarisierende oder riskante Themen wie Sklaven- und Kinderarbeit in Brasiliens Exportlandwirtschaft, die Verletzung indigener Rechte oder das Vorgehen der Polizei in Armenvierteln zu berichten?
Zuerst einmal möchte ich feststellen, dass die Arbeitsrechtsverstöße und anderer Verletzungen von Grundrechten in den vier Jahren der Regierung Bolsonaro zugenommen haben, genauso wie Angriffe auf indigene Gemeinden. Aus meiner Perspektive ist es zu früh, um die Frage zu beantworten. Was ich aber meine festzustellen, ist, dass die politische Atmosphäre weniger vergiftet ist – Lula ist, im Gegensatz zu Bolsonaro, kein Feind demokratischer und arbeitsrechtlicher Grundrechte.
Der Staat hat gemäß der Verfassung soziale und Umweltrechte zu garantieren. Ist er dieser Verpflichtung unter Bolsonaro nachgekommen?
Leider nicht, wir brauchen aber einen Staat, der die Grundrechte in allen Lagen verteidigt. Wir müssen analysieren, wie es möglich war, diese Grundrechte zu destabilisieren und partiell auszusetzen. Das ist wichtig und da ist die neue Regierung sicherlich sehr ambitioniert und verfügt in den Ministerien über viel Expertise und Erfahrung. Die Auswahl des politischen Personals hat Symbolcharakter – nehmen Sie nur Umweltministerin Marina Silva und Arbeitsminister Luiz Marinho. Beide sind international bekannt und renommiert, sie als Umweltschützerin und er als Gewerkschafter.
Wie lange wird es Ihrer Meinung nach dauern, bis Brasilien alle Fehlentwicklungen korrigiert und rückgängig gemacht hat?
Sicherlich mehr als eine Legislaturperiode, und nicht alles lässt sich rückgängig machen, wie zum Beispiel der Raubbau in der Amazonasregion. Brasilien und die Welt haben aus Perspektive des Klimawandels aber keine Dekaden, um Fehler zu korrigieren. Wir müssen jetzt aktiv werden, und deshalb ist das Versprechen Lulas, bis 2030 illegale Abholzung in der Amazonasregion zu beenden, ein wichtiger Schritt. Ich bin skeptisch, ob sich dieses ambitionierte Ziel erreichen lässt, begrüße die Vorgabe aber sehr.
Leonardo Sakamoto ist Journalist und Politikwissenschaftler. 2001 gründete er die NGO Repórter Brasil, die über Arbeitsrechtsverstöße und Zwangsarbeit in Brasilien berichtet. Er war Berater des Fonds der Vereinten Nationen für zeitgenössische Formen der Sklaverei in Genf und 2015/2016 Gastwissenschaftler an der New School for Social Research in New York City. Sakamoto ist Mitglied der Nationalen Kommission für die Abschaffung von Sklavenarbeit (Conatrae). Für seine Arbeit erhielt er diverse Preise; für seine Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen, die er trotz Drohungen und Übergriffen weiterführt, wurde er 2016 für den Preis für Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen nominiert. Er ist Dozent für Journalistik an der Pontifícia Universidade Católica de São Paulo und Kolumnist beim Internetportal UOL.