Blaublütige Republikfeinde
Zuerst fanden es viele lustig. Man lachte laut, als die Polizei im Dezember einen schrullig wirkenden Mann, der seinen Namen mit Heinrich XIII. Prinz Reuß angab, verhaftete, weil dieser geplant haben soll, die Regierung abzusetzen und sich zum Herrscher des Kaiserreichs Deutschland auszurufen. Nicht allen war sofort klar, woher die meisten Witze und Verharmlosungen der Sorte »Rentnerputsch« kamen – nämlich aus der Ecke der AfD und anderer rechtsextremer Gruppierungen, die ein Interesse daran hatten, ihre personellen Verflechtungen mit bewaffneten rechten Terrorgruppen durch Bagatellisierung zu verschleiern. Wer sich davon nicht blenden ließ, sah eine Zelle der höchst gewaltbereiten sogenannten Reichsbürgerszene, die bereits einiges an Waffen und Sprengstoff beschafft hatte und in Gestalt dieses Heinrich einen antisemitischen und antidemokratischen Anführer hatte.
Obwohl sich nach der Verhaftung Heinrichs XIII. seine Familie, beziehungsweise sein »Fürstenhaus«, wie es in verschiedenen Medien hieß, sofort von ihm distanzierte, führte die Festnahme zu einer Debatte über die Rolle des Adels im heutigen Rechtsextremismus. Sogenannte Reichsbürger betrachten Nachkommen von Adelsfamilien in ihrem Kampf gegen die von ihnen als illegitim angesehene Bundesrepublik als potentielle Verbündete (Jungle World 50/2022). In der AfD ist die Bundestagsabgeordnete und langjährige stellvertretende Parteivorsitzende Beatrix von Storch, geborene Herzogin von Oldenburg, ein prominentes Beispiel für Nachfahren von Adligen, die vor allem bei der Gründung der Partei eine bedeutende Rolle spielten. Der Soziologe Andreas Kemper sprach bereits 2015 von einem in der AfD aktiven »Kampagnennetzwerk, das klerikal-aristokratische Interessen vertritt« und in dem rechtskatholische Aristokraten antifeministische und homophobe Positionen propagieren.
19 Prozent der Obergruppenführer der SS entstammten im Jahr 1938 dem deutschen Adel – der rund 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte.
Deutschlands Adel blickt auf eine lange und unrühmliche Geschichte des Judenhasses und der Demokratieverachtung zurück. Die 1874 gegründete Deutsche Adelsgenossenschaft (D. A. G.) war die größte und einflussreichste Organisation ihrer Art und 1920 Avantgarde der Rassenideologie. In jenem Jahr führte der Club der Prinzen, Fürsten, Grafen und sonstigen Blaublüter eine Klausel ein, die sich wie eine Vorwegnahme der späteren Rassengesetze der Nazis liest: »Wer unter seinen Vorfahren im Mannesstamm einen nach 1800 geborenen Nichtarier hat oder zu mehr als einem Viertel anderer als arischer Rasse entstammt oder mit jemandem verheiratet ist, auf den dies zutrifft, kann nicht Mitglied der D. A. G. sein.« Die Adelsvertreter verschärften diesen frühen Arier-Paragraphen in den folgenden Jahren immer mehr und passten ihn 1935 sogar an den »Großen Ariernachweis« an, wie er für eine Mitgliedschaft in der SS Bedingung war; die D. A. G. verlangte also von ihren Mitgliedern den Nachweis rein »arischer« Vorfahren bis zum Jahr 1750.
Republikfeindliche Aristokraten spielten eine bedeutende Rolle beim Scheitern der Weimarer Republik und waren somit Wegbereiter der Machtübernahme der Nazis. 1932 sagte der Vorsitzende der D. A. G., Adolf zu Bentheim-Tecklenburg, beim »Adelstag« genannten Konvent der Adelsgenossenschaft: »Wir stehen an einer Schicksalswende. Mit elementarer Gewalt ringt die nordische Seele in unserem Volke mit den artfremden Mächten, die westlerische, undeutsche Demokratie uns beschert hat. (…) Erkenne deine Wesensart, deutscher Adel, erkenne die Stunde deines Volkes, dem du zugehörst; es ist Schmiedezeit.«
Antisemitismus zog sich bis in die höchsten Kreise des Adels. So schrieb der abgesetzte Kaiser Wilhelm II. 1927 an seinen Freund Poultney Bigelow: »Die Presse, Juden und Mücken« seien »eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss. Ich glaube, das Beste wäre Gas.« Das sahen die Nazis bekanntlich ganz genauso und setzten Wilhelms Phantasien in die Tat um.
Manchmal beteiligten sich Adlige persönlich an Verbrechen, die in ihrer Grausamkeit an Pier Paolo Pasolinis Film »Die 120 Tage von Sodom« erinnern. Ein solches ereignete sich kurz vor der deutschen Kapitulation im heutigen Österreich. In der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 gab Gräfin Margit von Batthyány, eine Tochter des Industriellen Heinrich Thyssen, auf ihrem Schloss im burgenländischen Rechnitz ein rauschendes Fest. Die Dame von Stand bewirtete eine Mörderbande.
200 jüdische Zwangsarbeiter:innen, die zu krank oder erschöpft waren, um den Nazis noch als Sklavenarbeiter von Nutzen zu sein, waren am Tag vor dem Fest nach Rechnitz gebracht worden. Dort erhielt der örtliche Gestapoführer Franz Podezin den Auftrag, diese 200 Menschen zu ermorden. Podezin wandte sich an seinen Freund Hans Joachim Oldenburg, der nicht nur das Gut von Margit von Batthyány verwaltete, sondern auch deren Geliebter war. Podezin und Oldenburg trommelten rund 15 Männer zusammen, darunter örtliche Würdenträger und Politiker, um das Massaker auszuführen. Man zwang zunächst die 200 Juden und Jüdinnen, in der Nähe des Schlosses eine große Grube auszuheben. In den folgenden Stunden erschoss und erschlug diese feine Gesellschaft 180 der 200 Juden. 15 bis 20 Juden mussten am folgenden Tag die Grube zuschütten, bevor die Nazis auch sie ermordeten. Die Täter wechselten zwischen Tatort und Schloss hin und her, tranken und aßen zwischen den Morden, tanzten mit dem weiblichen Personal der Gräfin. Die Einwohner von Rechnitz hörten die Schüsse und die Schreie der Opfer. Bis heute gibt es Gerüchte, die Gräfin habe höchstselbst am Massaker teilgenommen. Zur Unterhaltung.
Der Haupttäter Podezin starb vermutlich in den neunziger Jahren unbehelligt in Südafrika. Nur zwei der Mörder, lokale NS-Politiker, wurden 1948 für ihre Beteiligung am Massaker verurteilt, kamen aber auf Intervention von Politikern der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) und der Sozialdemokraten (SPÖ) bald wieder frei. Die Bevölkerung von Rechnitz weigerte sich, an der Aufarbeitung des Massakers mitzuarbeiten – selbst der Ort des Massengrabs ist deshalb bis heute nicht bekannt. Margit von Batthyány widmete sich nach dem Krieg der Pferdezucht und verstarb 1989 in der Schweiz, ohne jemals einen Gerichtssaal als Angeklagte von innen gesehen zu haben.
Wem Geschichtsunterricht nur in deutschen Nachkriegsschulen und mittels ARD-Eventfilmen zuteil wurde, mag nun einwenden: »Aber was ist mit den vielen Adligen, die im Widerstand waren?« Darauf ist zu antworten, dass nur eine winzige Minderheit des deutschen Adels aktiv gegen die Nazis vorging. Die große Mehrheit lief nicht nur mit, sondern beteiligte sich überproportional stark an den Verbrechen. Beispielsweise entstammten 19 Prozent der Obergruppenführer der SS im Jahr 1938 dem deutschen Adel – der rund 0,1 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachte. Ähnlich sah es in der in Deutschland traditionell stark vom Adel geprägten Wehrmachtsführung aus: Kurz vor Beginn des Kriegs waren 34 Prozent der Generäle adlig, 1943 immerhin noch 19,8 Prozent. Es ist naheliegend, dass sich Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe, in der Antisemitismus Tradition hatte und die sich auf vormoderne Phantasien von durch »Blut« und »Vorsehung« legitimierten Privilegien berief, mit einer Bewegung sympathisierten, deren erklärtes Ziel die Ausrottung aller Juden war und die auch sonst – beispielsweise mit dem Elitegedanken, der Verherrlichung des Kriegs, der Verachtung der Demokratie – verschiedene Anknüpfungspunkte für die reaktionären Ansichten vieler Adliger bot.
Diese finsterste Seite der Geschichte deutscher Adelshäuser wird in der deutschen Öffentlichkeit ebenso gerne ausgeblendet wie der Anteil der Feudalherrscher an Raubmord und Unterdrückung über die Jahrhunderte. Stattdessen hält der Adel für popkulturelle Projektionen her. Dafür müssen es die prominenteren dieser Leute aushalten, Hauptdarsteller für Regenbogenpresse zu sein, die mittels Teleobjektiven und Bestechung von Servicepersonal das Leben dieser Menschen auf Schritt und Tritt und bis in die Schlafzimmer hinein überwacht. Die unstillbare Gier nach Neuigkeiten, seien diese wahr oder erfunden, aus den Leben von »Prinzen« und »Prinzessinnen« sagt viel aus über das massenpsychologische Elend weiter Bevölkerungsteile, und selbst Chefredakteure werden vom Adelsfimmel ergriffen. Unvergessen etwa, mit welcher Inbrunst sich der damalige Bild-Chefredakteur Kai Diekmann für Karl-Theodor zu Guttenberg ins kommentierende Zeug legte, als dieser 2011 wegen einer Plagiatsaffäre als Verteidigungsminister zurücktreten musste. Im Gegensatz zum weitverbreiteten Adelskitsch erinnerte die Verhaftung von »Heinrich XIII.«, der von einem Staatsstreich gegen die Demokratie träumte, an die düsteren politischen Traditionen weiter Teile des deutschen Adels.