Über das Forschungsprojekt »Decoding Antisemitism«

»Ein großes antisemitisches Echo«

Das dreijährige Pilotprojekt »Decoding Antisemitism« am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin und der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin hat Antisemitismus in Online-Kommentarspalten von Mainstream-Medien in Deutschland, Frankreich und Großbritannien untersucht. Dabei geht es um antisemitische Stereotype und besonders »impliziten Antisemitismus«, was später von einer Künstlichen Intelligenz (KI) selbständig erfasst wird. Die Jungle World sprach mit Matthias J. Becker, dem Leiter des Projekts..
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Was ist impliziter Antisemitismus?

Nach 1945 setzte hierzulande eine Tabuisierung des zuvor konkret verbalisierten Antisemitismus ein. Dementsprechend verwenden nun viele Umwege, um Antisemitismus akzeptabler zu kommunizieren. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht bedeutet »impliziter Anti­semitismus« das Verwenden codierter Wörter und Sätze. Das können Wortspiele, rhetorische Fragen, Ironie oder Anspielungen auf die NS-Zeit sein. Wir lasen beispielsweise den Kommentar, dass jemand George Soros eine »Dusche« geben solle, was eine Anspielung auf die Gaskammern in der NS-Zeit ist. Bei unserem Projekt fanden wir heraus, dass impliziter Antisemitismus über 90 Prozent des von uns untersuchten Antisemitismus darstellt. Der fällt bei statistischen Analysen oft unter den Tisch, weil dort nur die expliziten Begriffe identifiziert werden.

Was machen Sie anders?

Wir versuchen zuerst, mit Linguist:innen und Antise­mi­tismus­for­scher:innen auf einer qualitativen Ebene ein grundlegendes Verständnis über Antisemitismus im Mainstream zu erlangen. Die KI wird von uns vortrainiert, indem wir sie mit diesem Wissen füttern. Bei statistischen Analysen wird beispielsweise der Lexikoneintrag für das Verständnis eines Wortes verwendet. Damit hangelt man sich an der Wortebene entlang. Unsere KI lernt, ein Wort im Kontext eines ­ganzen Satzes zu analysieren. Was wir als For­sche­r:in­nen herausfinden, soll von den KI-­Modellen weitergeführt werden. Deshalb gibt es sehr viel Interesse von zivilgesellschaftlichen Akteur:innen oder der Polizei an unserer KI.

Sind Ihnen Unterschiede zwischen den Ländern bezüglich der Formen von Antisemitismus aufgefallen?

Es gibt gravierende Unterschiede zwischen Großbritannien und Deutschland. Das hat etwas mit der Geschichte und der Kommunikationslatenz zu tun. In Großbritannien gab es nie eine politisch institutionalisierte Judenfeindschaft. Deshalb gehen viele Bri­t:in­nen davon aus, dass Antisemitismus mit Großbritannien nichts zu tun habe. Mit dieser Ein­stellung herrscht weniger Sensibilität für Antisemitismus. Das heißt, dass wir in Großbritannien einen Antisemitismus ausgewertet haben, der entgegen dieser Einschätzung auf der Wortebene sehr offen kommuniziert wird. Mit den englischen Datensätzen hat das KI-Modell deshalb in kurzer Zeit eine hohe Genauigkeit erreicht.

Wie sieht es in Deutschland aus?

Hier ist der Antisemitismus stark vom Ereignis abhängig. Der Ukraine-Krieg hat zu wenig Antisemitismus geführt. Beim sogenannten Nahostkonflikt ist ein großes antisemitisches Echo zu finden. Der stärkste Trigger sind Vorfälle, bei dem ein jüdischer Mensch oder eine jüdische Organisation darauf hinweisen, dass es in der deutschen Mehrheitsgesellschaft ein Antisemitismusproblem gibt. Das kollidiert mit einem positiven nationalen Selbstbild und dem ­sekundär-antisemitischen Bedürfnis nach einem »Schlussstrich«.