Ukrainische Flüchtlinge haben es in der EU nicht leicht, auch wenn sie kein Asylverfahren durchlaufen müssen

Was heißt schon Privileg

Ukrainische Flüchtlinge können problemlos in die EU einreisen und müssen hier keinen Asylantrag stellen. Elend ist ihre Situation dennoch.
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Mindestens zwölf Millionen Ukrainer mussten seit Februar wegen des Krieges ihr Zuhause verlassen, über fünf Millionen davon sind den UN zufolge in die EU geflohen, über 800 000 davon nach Deutschland. An den EU-Außengrenzen erwartete sie kein Tränengas wie die Flüchtenden, die im Winter versucht hatten, von Belarus aus die Grenze nach Polen zu überqueren. Auch in Flüchtlingslager, in denen die Lebensumstände derart elend sind, dass viele ihrer Bewohner selbst die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer auf sich nehmen, um ihnen zu entkommen, wurden sie nicht gepfercht.

Ukrainerinnen und Ukrainer dürfen ohne Visum in die EU einreisen. Noch wichtiger war, dass die EU-Innenminister aufgrund der Flucht mehrerer Millionen Menschen im März die Anwendung der sogenannten Massenzustrom-Richtlinie beschlossen, die Ukrainerinnen und Ukrainern sofort Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Schulen und Sozialleistungen ermöglicht, ohne dass sie ein Asylverfahren durchlaufen müssen. Das ist also möglich, wenn die EU-Staaten nur wollen.

Ukrainischen Flüchtlingen erspart das nicht nur den zermürbenden und oft aussichtslosen Kampf mit der Asylbürokratie, sie sind auch materiell bessergestellt: In Deutschland erhalten Ukrainer Zugang zum regulären Sozialhilfesystem, sie haben Recht auf Hartz-IV-Leistungen, Kindergeld und Bafög statt auf die noch niedrigeren Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, die für Alleinstehende nur 344 Euro monatlich, für Bewohner von Sammelunterkünften sogar nur 310 Euro betragen. Und vor allem das Arbeitsverbot entfällt für sie. Andere Zwänge für Asylbewerber wie die Wohnsitzauflage gelten jedoch auch für Ukrainer.

Angang Juni veröffentlichten Vertreter von 57 Organisationen und Verbänden einen Brief an Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD), in dem sie die gleichen Rechte auch für alle anderen Geflüchteten in Deutschland forderten. Besonders die in den ersten 18 Monaten geltenden Beschränkungen bei der Gesundheitsversorgung – Behandlung ist nur bei »akuten Krankheiten und Schmerzzuständen« garantiert – kritisierten sie.

Nichtukrainische Flüchtlinge aus der Ukraine sind mit einem anderen Problem konfrontiert. Das sind oft Ausländer, beispielsweise aus afrikanischen Ländern, die zum Studium oder zur Arbeit in die Ukraine gekommen waren und jetzt zwar in die EU ausreisen durften, denen hier aber die Abschiebung droht. Ebenfalls durch die Maschen des Asylsystems fallen staatenlose Ukrainer, die ohne ukrainischen Pass nicht als Kriegsflüchtlinge anerkannt werden. Schätzungen zufolge sollen zehn bis 20 Prozent der 400 000 ukrainischen Roma keinen Pass haben.

Noch einen Vorteil genießen die meisten ukrainischen Flüchtlinge: Bisher gibt es keine systematische rechtsextreme Hetze gegen sie. Im derzeitigen Raster der Rassisten sind sie als hellhäutige Europäer nicht auf die gleiche Art und Weise ein Feindbild wie Menschen aus Afrika oder Muslime. Die AfD schürt Ängste vor »Trittbrettfahrern«, also vor der Möglichkeit, dass auch nichtukrainische Flüchtlinge die derzeitige Situation nutzen könnten, um es in die EU zu schaffen.

Auch die wohlstandschauvinistische Sicht auf die Neuankömmlinge ist bislang positiv: Aus der Ukraine komme »zwar die ganze Bandbreite der Gesellschaft«, also auch Menschen ohne brauchbare Berufsabschlüsse, resümierte im Mai die Benjamin Beckmann, Leiter der Integrationskursabteilung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, im Gespräch mit der Welt. »Sie verfügen aber fast alle über gute Lernvoraussetzungen, vor allem eine gute Schul­bildung.«

Das Gerede über die guten Qualifikationen sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ukrainern vor allem die Stellung zugewiesen werden dürfte, die Menschen aus Osteuropa in Deutschland seit vielen Jahren haben: als billige Arbeitskräfte in den untersten Segmenten des Arbeitsmarktes, auf dem Bau, in der Pflege, in Schlachtereien oder der Gastronomie.

Die Vorstellung, Osteuropäer könnten aufgrund ihrer Hautfarbe nicht von Rassismus betroffen sein, ist nicht nur geschichtsvergessen, sie geht auch über die konkreten Bedingungen hinweg, unter denen sie – seien es Polen, Rumänen oder eben Ukrainer – seit vielen Jahren in Deutschland systematisch ausgebeutet werden. Vor der Invasion im Februar durften Ukrainer in Deutschland ohne Visum nicht arbeiten, weshalb viele von ihnen in illegalen Arbeitsverhältnissen endeten, etwa in der häuslichen Pflege. Die Ukraine war bereits vor dem Krieg eines der ärmsten Länder Europas. Aus dem kriegszerstörten Land dürften derzeit deshalb viele Menschen kommen, die verzweifelt nach Arbeit suchen und deren Notlage entsprechend ausgenützt werden kann.