Arbeitgeber könnten Geflüchtete aus der Ukraine zum Lohndumping nutzen

An die Arbeit

Am deutschen Arbeitsmarkt hat die Ausbeutung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine bereits begonnen.

Millionen Menschen befinden sich seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine auf der Flucht. Die meisten von ihnen harren in den direkten Nachbarländern aus, in der Hoffnung, bald in die Ukraine zurückkehren zu können. Inzwischen kommen jedoch auch Tausende täglich nach Deutschland, um hierzulande Schutz vor dem Krieg zu suchen.

Während vielfach noch die Versorgung der Geflüchteten und deren geeignete Unterbringung im Mittelpunkt stehen, wird bereits die Einordnung der Angekommenen in den deutschen Arbeitsmarkt betrieben. Anders als etwa bei Syrerinnen und Syrern, die 2015 monatelang auf ihren Asylstatus und eine Arbeitserlaubnis warten mussten, gelang es für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, schnell eine europaweite Regelung in Kraft zu setzen.

Der Rat der Europäischen Union aktivierte Anfang März die sogenannte Massenzustromrichtlinie, die 2001 unter dem Eindruck der Jugoslawien-Kriege geschaffen worden war, um künftig schneller auf große Fluchtbewegungen reagieren zu können. Erstmals greift die EU nun auf diese Möglichkeit zurück, um Geflüchtete kollektiv und europaweit aufzunehmen, ohne dass diese zuvor ein individuelles Asylverfahren durchlaufen müssten. Geflüchtete aus der Ukraine erhalten auf dieser Grundlage in Deutschland nicht nur unkompliziert eine Aufenthaltserlaubnis, sondern auch Sozialleistungen, Zugang zum Bildungssystem und zum Arbeitsmarkt.

Die Kombination von geringen staatlichen Leistungen mit unbeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt steigert den Druck auf Geflüchtete aus der Ukraine, jede verfügbare Arbeit anzunehmen.

Zustimmung finden die Maßnahmen, Ukrainerinnen und Ukrainer schnell in den Arbeitsmarkt aufzunehmen, sowohl bei Wirtschaftsverbänden als auch bei Gewerkschaften. »Aus der Ukraine kommen Menschen, die was draufhaben. Und die können wir gut gebrauchen«, sagte der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. In einer gemeinsamen Stellungnahme riefen der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) Anfang März die Bundesregierung dazu auf, möglichst schnell weitere Schritte zu ergreifen, um den Angekommenen den Weg in die Arbeitswelt zu erleichtern. »Die Unternehmen, Betriebs- und Personalräte stehen bereit, ihren Anteil zu tragen, diese Menschen aufzunehmen, aus- und fortzubilden und in den Arbeitsmarkt zu integrieren«, heißt es zudem in der Erklärung.
Neben der generellen Unterstützung für den Kurs der Bundesregierung gibt es aus den Gewerkschaften jedoch auch mahnende Worte. »Während der zurückliegenden Flüchtlingswellen hat sich gezeigt, dass Geflüchtete häufig in prekäre Arbeitsverhältnisse abgedrängt worden sind – zumeist wegen der Sprachbarriere oder auch wegen fehlender Qualifikationen und dergleichen«, sagte der Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, Frank Werneke, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Insbesondere in der Anhebung der Verdienstgrenze für Minijobs von 450 auf 520 Euro pro Monat, die zum 1. Oktober erfolgt, sieht Werneke ein großes Risiko. Die prekären Beschäftigungsverhältnisse könnten so enorm ausgeweitet werden – mit allen Nachteilen für die Betroffenen. »Das werden häufig auch Geflüchtete sein«, so der Gewerkschafter.

Die Befürchtung, dass Unternehmen die Not der Kriegsflüchtlinge ausnutzen, um billige Arbeitskräfte zu rekrutieren, ist mehr als berechtigt. Die Ankommenden erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. So bekommt eine alleinerziehende Mutter 367 Euro pro Monat – und damit deutlich weniger als die 449 Euro, die ihr als Hartz-IV-Empfängerin zustehen würden. Auch die Sätze für Kinder und Jugendliche liegen unter dem Niveau der Grundsicherung. Diese Kombination von geringen staatlichen Leistungen mit unbeschränktem Zugang zum Arbeitsmarkt steigert den Druck, jede verfügbare Arbeit anzunehmen.

Tatsächlich sind es vor allem Branchen, die aufgrund der dort vorherrschenden miserablen Arbeits- und Lohnbedingungen seit langem über einen Mangel an Arbeitskräften klagen, die die Anwerbung ukrainischer Neuankömmlinge bereits jetzt auf Hochtouren betreiben. Gastronomen schalten Stellenanzeigen auf Ukrainisch und bieten neben einem Arbeitsplatz auch gleich eine Unterkunft an, eine private Pflegeheimkette sucht unter den Geflüchteten nach 2 000 neuen Beschäftigten, eine Friseurkette aus Berlin wirbt damit, neue Mitarbeiter bei Sprachproblemen zu unterstützen. Ehrenamtliche Helfer berichten auch von zwielichtigen Arbeitsangeboten direkt an Bahnhöfen und Notunterkünften.

Vielerorts berichten Lokalzeitungen euphorisch über die neuen Arbeitskräfte für regionale Unternehmen. Zum Beispiel in der Kreisstadt Lahr im Schwarzwald. »Für uns sind die Flüchtlinge aus der Ukraine eine große Chance«, sagte Jonas Kenk, der Betreiber eines Pflegeheims in der Region, der Lahrer Zeitung. Bei ihm seien bereits erste Geflüchtete im Einsatz. Er gibt ­zudem Einblick in die Rekrutierungsmethoden der Unternehmen. Kenk sei schon früh mit Geflüchteten in Kontakt getreten, denn im familieneigenen Landhotel Dammenmühle habe man 25 Ukrainer aufgenommen. Mit dem vorgefundenen Arbeitskräftematerial ist er trotzdem nicht ganz zufrieden. »Den Wunschtyp der ledigen Krankenschwester findet man selten«, so Kenk.

Eigentlich stünden die Voraussetzungen für ukrainische Geflüchtete gut, am deutschen Arbeitsmarkt auch in qualifizierten Tätigkeiten Fuß zu fassen. In einer vergangene Woche veröffentlichten »Einschätzung der Integrationschancen« der Geflüchteten aus der Ukraine geht das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit nach vorläufigen Schätzungen davon aus, dass etwa die Hälfte der angekommenen Geflüchteten über einen Hochschulabschluss verfügen und weitere 26 Prozent über einen höheren Schulabschluss. Viele der Ankommenden hätten eine in Deutschland gefragte Berufsqualifizierung. Der IAB-Forscher Herbert Brücker spricht gegenüber der Zeit von einem »breiten Spektrum, von Erziehungs- und sozialen Berufen über technische Jobs bis zu kaufmännischen«.

Dennoch dürften die meisten ukrai­nischen Geflüchteten zunächst in ­Helfertätigkeiten im Niedriglohnsektor und in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen wie der Leiharbeit, Werkverträgen und Minijobs landen. Die Gründe dafür sind neben mangelnden Sprachkenntnissen, dass viele Ukrainerinnen aus hochqualifizierten Berufen stammen, zu denen hierzulande der Zugang stark reglementiert ist – wie Lehrerin oder Erzieherin –, und sich für die Anerkennung ihrer Abschlüsse erst weiterbilden oder komplett neu ausbilden lassen müssen. Viele Geflüchtete »werden in Deutschland deshalb unter ihrer Qualifikation arbeiten«, so Brücker.

Eine Einschätzung, die auch der Arbeitsrechtsanwalt Martin Bechert im Gespräch mit der Welt teilt: »Viele Unternehmer sehen die ukrainischen Flüchtlinge einfach als billige Arbeitskräfte. Meine Befürchtung ist, dass ihre Notsituation ausgenutzt wird und viele Firmen die Ukrainer nicht etwa als qualifizierte Arbeitnehmer beschäftigten, sondern sie vergleichsweise ­weniger Geld bekommen und unter Wert arbeiten müssen.«

Gerade im Pflegesektor ist die Ausbeutung ukrainischer Arbeitskräfte ­bereits Realität und dürfte sich durch Krieg und Flucht weiter verschärfen. Frauen, die in der Ukraine als Ärztinnen tätig waren, sind oftmals in deutschen Altenheimen als Pflegehelferinnen im Einsatz. Und seit Jahren kommt Pflegehelferinnen aus der Ukraine eine tragende Rolle insbesondere in der häuslichen Pflege zu. Als sogenannte Live-ins in der 24-Stunden-Pflege betreuen sie ihre Patientinnen nahezu rund um die Uhr in deren Haushalt – unter katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen. Angeworben werden sie meist von speziellen Agenturen, die ihren Sitz in Polen haben. Von diesen werden sie auf Basis der EU-Entsenderichtlinie in deutsche Privathaushalte vermittelt. Ausbeutung, weitgehende Entrechtung, Arbeitszeit- und Lohnbetrug sind die Grundlagen des Geschäftsmodells der Agenturen. Während den Angehörigen mehrere Tausend Euro in Rechnung gestellt werden, die in die Taschen der Agenturen fließen, werden die Betroffenen mit Hungerlöhnen von 900 bis 1 000 Euro pro Monat abgespeist.

Es steht zu befürchten, dass es nun auch in weiteren Branchen zu Lohndrückerei kommt, da die Geflüchteten wegen ihrer Notlage oft bereit sind, für einen Bruchteil des in der jeweiligen Branche üblichen Lohns zu arbeiten.