In Russland erzwingt die Regierung Loyalität

Der Frieden der anderen

Der staatliche Druck auf die russische Gesellschaft, sich zu Wladimir Putins Kriegszielen zu bekennen, wächst. Doch nicht alle unbequemen Wahrheiten lassen sich vor der Öffentlichkeit verbergen.

Es gab Zeiten, da fanden gesellschaftliche Umbrüche ohne Nutzung sozialer Medien und ohne Kommunikation im Internet statt. Auf derlei zu verzichten, erschiene heutzutage anachronistisch. Die russische Antikriegsbewegung sieht sich nun allerdings gezwungen, zumindest was Facebook und Instagram angeht. Deren Eigentümerin Meta Platforms hatte kürzlich infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine die Nutzungsbedingungen in bestimmten Ländern wie Russland, der Ukraine und Polen aufgeweicht; Aufrufe zur Gewalt gegen russische Soldaten sowie deren politische Führer, Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin, nicht jedoch gegen russische Zivilisten seien für eine bestimmte Zeit erlaubt.

Die russische Generalstaatsanwaltschaft forderte daraufhin, die Tätigkeit von Meta in Russland wegen der »ex­tremistischen« Ausrichtung des Unternehmens zu verbieten. Zwar steht ein Gerichtsentscheid noch aus, aber schon jetzt kündigen russische Userinnen und User massenweise an, ihre Accounts zu löschen. In einer E-Mail, die an alle Personen ging, die im staatlichen Verwaltungsportal Gosuslugi registriert sind, erinnerte die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor an inländische Ausweichmöglichkeiten – Vkontakte und Odnoklassniki. Diese erfahren seit kurzem erheblichen Zulauf. Wer diese Netzwerke bislang vermied, hatte dafür einen guten Grund: Dort haben die Strafverfolgungsbehörden faktisch freien Zugang zu den Nutzerdaten, was bei Facebook und Instagram nicht so reibungslos funktioniert.

Wer auf der Straße mit einem Plakat für Frieden wirbt, wird festgenommen. Dafür reicht es sogar, eine Blatt Papier mit Punkten oder Sternchen statt Buchstaben hochzuhalten.

Beschäftigte im Staatsdienst werden neuerdings angehalten, Unterstützung des Kriegs zumindest im Internet zur Schau zu stellen. Entsprechende Beiträge auf privaten Accounts sollen mit unzweideutigen Hashtags wie »Für Putin« oder »Wir lassen die Unseren nicht im Stich« versehen werden. Erwünscht ist auch der Hashtag »Für Frieden«; wer indes auf der Straße mit einem Plakat für Frieden wirbt, wird festgenommen. Dafür reicht es sogar, eine Blatt Papier mit Punkten oder Sternchen statt Buchstaben hochzuhalten. Viele festgenommene aktive Kriegsgegner und Kriegsgegnerinnen kommen mit einer Geldbuße davon, andere sitzen kurze Haftstrafen ab; doch kam es nach den jüngsten Protesten in Moskau zu einigen regelrechten Gewaltexzessen auf Polizeiwachen.

Auch der bereits inhaftierte Oppositionelle Aleksej Nawalnyj hat zu Protesten gegen den Krieg aufgerufen, die Staatsanwaltschaft forderte am Dienstag weitere zehn Jahre Haft wegen Betrugs und Amtsbeleidigung. Bis zu 15 Jahre Gefängnis nach dem neuen Gesetz gegen Verunglimpfung der russischen Streitkräfte drohen der Fernsehredakteurin Marina Owsjannikowa. Am Montag stellte sie sich während der live ausgestrahlten Hauptabendnachrichten mit einem Antikriegsplakat hinter die altgediente Sprecherin Jekate­rina Andrejewa. Owsjannikowa wurde festgenommen.

Russland befindet sich in einem von der Regierung verordneten medialen Siegestaumel, der allerdings nicht verbergen kann, dass sich der Großteil der Bevölkerung lieber in passives Schweigen hüllen würde. Da die allermeisten Menschen in Russland für sich keine andere Möglichkeit sehen, als im Land auszuharren und sich mit dem Regime irgendwie zu arrangieren, ohne aufzufallen, fallen private Stellungnahmen eher knapp aus. Meinungsumfragen sollen allerdings suggerieren, dass die über staatliche Medien verbreitete Mär von der Rettungsaktion für die Menschen im Donbass allgemein auf Zuspruch trifft. Politologen wie Abbas Galljamow, der in früheren Jahren als Redenschreiber für Putin tätig war, gehen indes davon aus, dass bestenfalls ein Drittel der russischen Bevölkerung den Krieg in der Ukraine aufrichtig unterstützt.

Ob die einschneidenden Wirtschaftssanktionen hier etwas verändern werden, ist unklar. Bislang versucht die russische Regierung dem vorzubeugen, indem sie verspricht, Renten und einen Teil der Sozialleistungen an die Inflationsrate anzupassen. Maksim Reschetnikow, der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, beteuerte, viele der ausländischen Firmen, die sich gerade aus Russland zurückziehen, hätten diese Entscheidung nur wegen logistischer Schwierigkeiten getroffen. Sobald neue Wege gefunden seien, den Warenimport sicher­zustellen, würden die Geschäfte weiterlaufen.

Für manche Unternehmen mag das zutreffen, aber einige Branchen, wie beispielsweise die Automobilproduktion, sind in einem so hohen Ausmaß von ausländischen Importen ­abhängig, dass mit extrem hohen Verlusten zu rechnen ist. Robin Brooks, der Chefökonom des Institute of International Finance, geht inzwischen ­davon aus, dass das Bruttoinlandsprodukt 2022 bis zu 30 Prozent schrumpfen könne. Das wäre vergleichbar mit dem ökonomischen Niedergang zu Beginn der neunziger Jahre. Selbst wenn der Rückgang der jährlichen Wirtschaftsleistung zwischen zehn und 20 Prozent liegen sollte, wie der in Chicago lehrende russische Ökonom Konstantin Sonin schätzt, sind erhebliche Verschlechterungen der Lebensbedingungen für die russische Bevölkerung zu erwarten. Aber wer dem Glauben anhängt, Russland hätte irgendetwas bei diesem Krieg zu gewinnen, lässt sich von solchen Prognosen ohnehin nicht be­eindrucken.

Russland zieht derweil zur Verstärkung des Einsatzes in der Ukraine Truppen aus Abchasien und Bergkarabach ab, möglicherweise, wie angekündigt, bald sogar aus Syrien. Zwar sind die Verluste auf russischer Seite wohl nicht mehr ganz so hoch wie in den ersten Tagen der Invasion, Logistikprobleme bekommen die Streitkräfte jedoch nach wie vor nicht in den Griff. Da die verschlüsselte Kommunikation nicht oder nur eingeschränkt funktioniert, dringen Informationen über die Zustände in der Armee und über Befehle, die auch auf die Tötung von Zivilisten zielen, an die Öffentlichkeit.

Schließlich sah sich die russische Führung Mitte vergangener Woche sogar gezwungen, den Einsatz von Wehrpflichtigen in Kampfhandlungen zuzugeben; diesen hatte sie zuvor noch abgestritten. Über die ukrainische Initiative »Suche die eigenen Leute« verbreiteten sich auch in Russland, obwohl verboten, zahlreiche Videos von meist ganz jungen Männern, die in ukrainische Gefangenschaft geraten waren. Einige von ihnen riefen dazu auf, den sinnlosen Krieg zu beenden. In einzelnen Fällen informierte die russische Militärverwaltung die Angehörigen über den Verbleib der Soldaten. Unmittelbar nach dem Eingeständnis versprach Präsident Wladimir Putin, die Schuldigen für die Entsendung von Wehrpflichtigen zur Verantwortung zu ziehen.

Daraufhin gab es erste Meldungen über Ermittlungen im Sicherheitsapparat. Es hieß, gegen zwei hochrangige Angehörige des Inlandsgeheimdienstes FSB sei Hausarrest wegen Landesverrats verhängt worden: General Sergej Beseda und seinen vormaligen Stellvertreter Anatolij Boljuch. Beide waren während der Unruhen 2014 in Kiew mit dem Auftrag, den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Januko­wytsch zu unterstützen. Für solche Tätigkeiten waren ursprünglich der ­militärische und der Auslandsgeheimdienst zuständig. Aber als Putin 2000 das Präsidentenamt übernahm, erteilte er dem ihm zuvor unterstehenden FSB die Vollmacht, eigenständig Spionage in den von Russland unabhängigen ehemaligen Sowjetrepubliken zu betreiben. Beseda führt beim FSB die entsprechende Abteilung Nummer fünf an.

Ukrainische und russische Medien berichteten kürzlich, Beseda und Boljuch seien in einen internen Skandal verwickelt. Für Scheinoperationen in der Ukraine sollen sie derzeit nicht überprüfbaren Angaben zufolge geholfen haben, fünf Milliarden US-Dollar zu veruntreuen. Die Militäroperation in der Ukraine stockt offenbar nicht zuletzt deshalb, weil sie auf gefälschten und geschönten Angaben über die Zustände in der Ukraine beruht.

Das von dem im Ausland lebenden ehemaligen russischen Oligarchen Michail Chodorkowskij finanzierte Rechercheinstitut Dossier Center fand ­allerdings heraus, dass Beseda und Boljuch zwar zum Verhör vorgeladen waren, sich aber auf freiem Fuß befinden. Vermutlich handele es sich um eine ­Inszenierung des FSB, um zu ermitteln, aus welchen Quellen Informationen über den angeblichen Hausarrest Besedas und Boljuchs, der die Abteilung Nummer fünf vor längerer Zeit verlassen habe, geleakt worden seien.

Über 2 350 Menschen sollen nach Angaben des Stadtrats allein bei den rus­sischen Angriffen auf die ukrainische Hafenstadt Mariupol ums Leben gekommen sein. Der Krieg in der Ukraine könnte bald in eine neue Phase über­gehen, wenn russische Truppen mit der Einnahme der Hauptstadt Kiew beginnen. Oder es zumindest versuchen.