Der russische Truppenaufmarsch führt zu hektischen diplomatischen Aktivitäten

Das riskante Abkommen

Die ukrainische Regierung sieht die Verhandlungen westlicher Politiker mit Wladimir Putin skeptisch, denn sie befürchtet, von ihren Partnern unter Druck gesetzt zu werden.

Als der US-amerikanische Präsident Joe Biden am Montag mit »Olaf«, wie er den deutschen Kanzler Scholz (SPD) ansprach, vor die Presse trat, war von Gräben zwischen Deutschland und den USA nichts mehr zu spüren. Biden betonte die enge Zusammenarbeit der beiden Länder, besonders gegen »Kon­kurrenten, die eine illiberalere Zukunft anstreben«, nämlich China, Russland und andere. Das Thema Ukraine überschattete alles. Scholz betonte, man habe »gemeinsam an schweren Sanktionen gearbeitet«, für den Fall, dass Russland erneut die Ukraine angreifen sollte.

Nur beim Thema Nord Stream 2 zeigte sich ein Dissens. »Falls Russland ­einmarschiert«, so Biden entschieden, »wird es kein Nord Stream 2 mehr geben. Wir werden es stoppen.« Scholz jedoch kam selbst auf explizite Nachfrage der anwesenden Journalisten kein direktes Wort über die Zukunft der Gaspipeline über die Lippen.

Die ukrainische Regierung sieht die Verhandlungen mit Putin, an denen sie oft nicht unmittelbar beteiligt ist, mit einer gewissen Skepsis.

Der russische Truppenaufmarsch der vergangenen Monate hat zu einer fieberhaften diplomatischen Aktivität geführt. Richtete Russland sich zunächst primär an die Nato und die Vereinigten Staaten, sind derzeit die europäischen Regierungen stärker involviert. Am Montag war die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in Kiew, am Dienstag reiste sie ins Kriegsgebiet in der Ostukraine. Ein geplantes Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten ­Wolodymyr Selenskyj fand jedoch nicht statt, angeblich wegen Terminproblemen. Der Nachrichtensender CNN berichtete unter Berufung auf eine anonyme Quelle, das Gespräch sei von ukrainischer Seite abgesagt worden, weil Baerbock nicht habe öffentlich versprechen wollen, dass im Fall einer russischen Invasion Nord Stream 2 nicht in Betrieb gehen werde.

800 Kilometer weiter nordöstlich verhandelte am Montagabend der französische Präsident Emmanuel Macron mehrere Stunden lang mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Einige Äußerungen Macrons hatten ­zuvor für Besorgnis auf ukrainischer Seite über einen westeuropäischen Alleingang gesorgt. So berichtete beispielsweise Politico, dass Macron die sogenannte Finnlandisierung der Ukraine, also ihren permanenten blockfreien Status nach dem Vorbild Finnlands im Kalten Krieg, als eine mögliche Option beschrieben habe – für die ukrainische Regierung, die auf ihr Recht zum Nato-Beitritt besteht, inakzeptabel.

Macron versuchte, seinen Besuch als Erfolg zu verkaufen. Russland werde keine neuen militärischen Initiativen mehr unternehmen, hieß es aus französischen Regierungskreisen, doch konkrete Zugeständnisse machte keine Seite. Der russische Regierungssprecher Dmitrij Peskow kühlte alle Hoffnungen auf baldige Fortschritte ab, wie er auch Macrons Anspruch, eine eigenständigere europäische Außenpolitik darzustellen, desavouierte: Mit Frankreich könne man »unmöglich« feste Absprache treffen, denn es sei in der EU und der Nato nur ein Mitglied unter vielen. »Anführer des Blocks ist ein anderes Land«, so Peskow, und meinte damit offenbar die USA.

Zumindest bis kommende Woche sollen die Verhandlungen fortgeführt werden. In Berlin soll ein Treffen im sogenannten Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich stattfinden. Olaf Scholz will am 14. Februar erst nach Kiew und am 15. nach Moskau reisen.

Die ukrainische Regierung sieht diese Verhandlungen mit Putin, an denen sie oft nicht unmittelbar beteiligt ist, mit einer gewissen Skepsis. »Wir wollen eine diplomatische Lösung, aber wir werden nicht die roten Linien der Ukraine überschreiten«, schrieb am Montag der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter. Diese seien: »keine Zugeständnisse, was unsere Souveränität und territoriale Integrität betrifft, keinen ›direkten Dialog‹ mit den russischen Besatzungsregierungen in Donezk und Luhansk, und nur das ukrainische Volk hat das Recht, unseren außenpolitischen Kurs zu bestimmen«.

Offenbar befürchtet die ukrainische Regierung, sie könne, allen gegenteiligen Beteuerungen der westlichen Regierungen zum Trotz, von den europäischen Staaten, aber womöglich auch den USA zu Zugeständnissen an Russland gezwungen werden. So können auch die Äußerungen verschiedener ukrainischer Regierungsmitglieder interpretiert werden, eine großangelegte Invasion Russlands, vor der die US-Regierung seit Monaten lautstark warnt, sei derzeit nicht möglich. Ende Januar veröffentlichte der ukrainische Think Tank Center for Defense Strategies eine Analyse, der zufolge eine solche Invasion in diesem Jahr noch nicht zu befürchten sei. Stattdessen müsse man sich auf andere Szenarien einstellen, etwa eine Eskalation der Kämpfe im Donbass mit einer Intervention der regulären russischen Streitkräfte. In diesem Szenario stünde nicht ein einzelner entscheidender Angriff bevor, sondern eine langfris­tige Strategie der politischen und wirtschaftlichen Zermürbung und Destabilisierung der Ukraine, wozu auch Mittel wie Cyberangriffe und Störungen kritischer Infrastruktur gehören können.

In den vergangenen Monaten standen Russlands Forderungen an die USA und die Nato im Vordergrund. Doch ­offen ist, welche politischen Ziele Russland in Hinblick auf die Ukraine verfolgt. Simon Shuster wies im britischen Magazin Time kürzlich darauf hin, dass der Beginn des ersten russischen Truppenaufmarsches an der ukrainischen Grenze im Februar vergangenen Jahres liegt. Wenige Tage nach Joe Bidens Amtsantritt hatte damals der ukrainische Präsident Selenskyj, dessen Versuche, die Verhandlungen mit Russland neu zu beginnen, im Jahr davor weitestgehend gescheitert waren, überraschend mehrere Fernsehsender der allgemein als prorussisch bezeichneten Oppositionspartei Oppositionsplattform, die damals in Umfragen über 20 Prozent der Stimmen erhielt, vom Netz genommen. Ende Februar verhängte der ukrainische Sicherheitsrat Sanktionen gegen den Sponsor der ­Oppositionsplattform, den Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, der als führende Persönlichkeit der prorussischen Kräfte im Land galt. Medwedtschuk steht in persönlichen Beziehungen zu Putin und wurde von den USA bereits 2014 mit Sanktionen belegt. Die US-Botschaft teilte in einem öffentlichen Statement mit, dass sie die Sanktionen gegen ihn unterstütze. Nur zwei Tage später, am 21. Februar, so Shuster, befahl das russische Verteidigungsministerium die ersten Truppenverlagerungen in Richtung ukrainische Grenze. Seit Mitte Mai steht Medwedtschuk, angeklagt unter anderem wegen Landesverrat, unter Hausarrest. Es ist vorstellbar, dass die russische Regierung dieses Vorgehen gegen ihren Partner in der Ukraine mit Billigung der neuen US-Regierung zum Anlass nahm, zu militärischen Mitteln zu greifen. »Selenskyj hat sich zu einer harten Linie entschlossen, und begann, den russischen Einfluss in der Ukraine zurückzudrängen«, schrieb Ende Januar Michael Kofman, ein US-Militärexperte, der in den vergangenen Monaten vor einer drohenden russischen Invasion warnte. »Russland glaubt, dass es sinnlos sei, mit Selenskyj weiter zu verhandeln, es sieht seine Regierung als Marionette der USA.«

Eine besondere Rolle bei Russlands Zielen spielt das sogenannte Minsker Abkommen, das in seiner geltenden Form im Februar 2015 von der ukrainischen Regierung unterzeichnet wurde, nachdem reguläre russische Truppen der ukrainischen Armee in der Ostuk­raine empfindliche Niederlagen zugefügt hatten. In den vergangenen Wochen wiederholte die russische Regierung ihre Forderungen insbesondere an die USA, sie sollten die Ukraine zur Erfüllung des Abkommens bewegen.

Das Abkommen war in der Ukraine immer umstritten. Man befürchtet, dass es darauf hinauslaufen werde, die separatistischen Regierungen in der Ostukraine zu legalisieren und ihnen im Rahmen eines von Russland ein­geforderten Autonomiestatus ein Vetorecht über außenpolitische Richtungsentscheidungen des Landes zu geben. 2017 starb bei gewalttätigen Protesten vor dem ukrainischen Parlament in Kiew unter Beteiligung radikaler Nationalisten gegen die Verabschiedung eines Gesetzes über den Autonomiestatus der separatistischen Gebiete ein Mensch, mehrere wurden durch eine explodierende Granate verletzt. 2019, als der neu gewählte Präsident Selenskyj die Friedensverhandlungen mit Russland neu aufnahm, protestierte die Opposition unter Beteiligung von Rechtsextremen gegen die drohende »Kapitulation«.

Anfang Februar sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in einem Gespräch mit einer polnischen Zeitung, die ukrainische Regierung lehne einen rechtlichen Sonderstatus für die separatistischen Gebiete ab. Stattdessen will die Ukraine das Minsker Abkommen in Teilen neu aushandeln.

Russland selbst hat seit Jahren zahlreiche Bedingungen des Abkommens nicht erfüllt – angefangen beim Abzug schwerer Waffen von der Front – und begann im vergangenen Jahr damit, Hunderttausende russische Pässe an die verbliebenen Bewohner der selbsternannten Volksrepubliken zu verteilen und diese Gebiete enger auch in die Wirtschaft Russlands einzubinden. Es ist deshalb fraglich, ob Russland wirklich noch an eine Umsetzung des Abkommens glaubt.

»Die Umsetzung des Minsk-Abkommens würde die Zerstörung des Landes bedeuten«, warnte Ende Januar auch der Vorsitzende des ukrainischen Sicherheitsrates, Oleksij Danilow. »Schon als das Abkommen im Schatten der russischen Kanonenrohre unterzeichnet wurde – und die Deutschen und die Franzosen dabei zusahen –, war allen rationalen Menschen klar, dass es unmöglich ist, diese Bestimmungen umzusetzen.«