Um 1900 warben europäische Sozialdemokraten für eine sozialistische Eugenik

Für den gesunden Arbeiterstaat

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten europäische Sozialdemokraten und Frauenrechtlerinnen für eine sozialistische Eugenik ein.

Staatliche eugenische Maßnahmen in Form von Fortpflanzungsverboten für Menschen mit sogenannten unerwünschten Merkmalen und Verhaltensweisen gab es vor 1933 in den industrialisierten Ländern ausschließlich in Demokratien, allen voran den USA, wo ab 1907 mehrere Bundesstaaten Sterilisationsgesetze erließen. Dänemark kontrollierte ab 1923 die Eheschließung ­bestimmter Bevölkerungsgruppen, 1929 folgte auch hier ein Sterilisationsgesetz. Der Schweizer Nervenarzt Auguste Forel, laut Selbstbeschreibung »von ganzem Herzen Sozialist«, veranlasste ab 1892 in psychiatrischen Einrichtungen die europaweit ersten eugenisch motivierten Sterilisationen und Kastrationen, damals noch ohne gesetzliche Regelung und nicht selten ohne Einwilligung der Betroffenen. Das alles ist irritierend, aber mit Blick auf die Geschichte der sozialistischen Eugenik wenig überraschend: Um 1900 kämpften zahlreiche prominente Sozialistinnen und Sozialisten nicht nur für eine neue Gesellschaft, sondern waren überzeugt, auch mittels Fortpflanzungssteuerung einen »neuen Menschen« schaffen zu können.

Karl Kautsky zufolge drohte dem sozialistischen Projekt Gefahr auch von einer sich rasant verbreitenden »Degeneration« der Menschen.

Karl Kautsky, seinerzeit der führende Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, widmete beispielsweise das letzte Kapitel seines 1910 veröffentlichten bevölkerungspolitischen Buchs »Vermehrung und Entwicklung in Natur und Gesellschaft« dem Thema »Rassenhygiene«. Darin forderte er eine »künstliche Zuchtwahl«: Alle »kränklichen Individuen, die kranke Kinder zeugen können«, sollten an der Fortpflanzung gehindert werden. Denn ­Gefahr drohte dem sozialistischen Projekt in seinen Augen nicht nur vom ­politischen Gegner, sondern auch von einer sich rasant verbreitenden »Degeneration« der Menschen.

Mit dieser Vorstellung stand Kautsky nicht allein. Um die Jahrhundertwende glaubten zahlreiche europäische Sozialistinnen und Sozialdemokraten, dass sich der körperliche, geistige und moralische Verfall eines Großteils der Bevölkerung in den kapitalistisch organisierten Industriegesellschaften nur mit eugenischen Maßnahmen aufhalten lasse. In den beiden großen Theoriezeitschriften der deutschen Sozialdemokratie, der Neuen Zeit und den Sozialistischen Monatsheften, prägte Oda Olberg – dem Gründer der österreichischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Victor Adler zufolge die »beste sozialistische Journalistin« ihrer Zeit – die Debatte über Eugenik, zusammen mit der Soziologin und Frauenrechtlerin Henriette Fürth, dem Gewerkschafter Edmund Fischer und anderen.

In der britischen Linken wurden ­eugenische Positionen vorrangig in Publikationen der Independent Labour Party (ILP) diskutiert. Maßgeblich war hier der Einfluss des 1924 zum ersten Labour-Premierminister gewählten Politikers James Ramsay MacDonald, der in Eugenik eine »unentbehrliche Ergänzung« zum Sozialismus sah, wie er 1911 formulierte. Im selben Jahr schrieb der sozialistische Autor George Whitehead in seiner im Verlag der marxistischen Social Democratic Federation (SDF) veröffentlichten Broschüre »Socialism and Eugenics« eindringlich: »Eugenics and Socialism must work hand in hand if we are to have a healthy race.«

Gleichzeitig sahen sich sozialistische Befürworterinnen und Befürworter der Eugenik zu scharfen Abgrenzungen von »bürgerlichen Rassenhygienikern« (Olberg) genötigt. Denn deren sozialdarwinistische Lesart der gesellschaftlichen und »natürlichen« Entwicklung identifizierte die unteren Schichten als biolo­gische Verlierer, welche unverantwortlich viele Kinder bekämen und daher die Schuld trügen am Niedergang des »Volks« und der Nation – willkommene Argumente auch gegen die sich immer stärker organisierende Arbeiterklasse.

Gegen solche antisozialistische Propaganda, die Sozialreformen ablehnte, beharrten zahlreiche Sozialistinnen und Sozialisten darauf, den Menschen als Produkt der Verhältnisse zu begreifen, und schrieben die Verantwortung für das vor allem in den rasch wachsenden Großstadtslums um sich greifende Elend dem kapitalistischen System zu.

Die sozialistischen Eugenikbefürworterinnen und -befürworter betonten zwar ebenfalls den negativen Einfluss des Kapitalismus, welcher zusammen mit überkommenen bürgerlichen Moralvorstellungen dringend abgeschafft werden müsse. Zugleich waren sie jedoch davon überzeugt, dass bestimmte körperliche und psychische Eigenschaften vererbt würden – und manche davon würden sich unter den lebensfreundlichen Bedingungen einer sozialistischen Gesellschaft umso stärker vermehren, weil dann keine »Überlebensauslese« mehr stattfände. Eine »künstliche Auslese« mit Sozialismus zu kombinieren, erschien ihnen daher unerlässlich.

Das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung hatte in dieser Vorstellung keinen Platz. Vielmehr sollte eine früh ansetzende Wissensvermittlung für ein eugenisches Bewusstsein sorgen, damit schon jedem Kind selbstverständlich werde, »daß seine Gesundheit und die Integrität seines Körpers nicht absolutes Eigentum, mit Recht des Gebrauchs und Mißbrauchs ist«, wie Olberg schrieb.

Hinzu kamen völlig vermessene Erwartungen an die Perfektion des zukünftigen sozialistischen Lebens, das Kautsky zufolge frei sein werde von allen Umständen, die »Krankheit und Entartung erzeugen«. In einem solchen Gesellschaftsgefüge wäre abweichendes Verhalten leicht zu identifizieren. »Wenn dann noch kranke Kinder in die Welt kommen, wird ihr Siechtum nicht als Schuld der sozialen Verhältnisse, sondern einzig als persönliche Schuld der Eltern erscheinen«, so Kautsky. Eine Kernidee der sozialistischen Eugenik lautete also: Wer schadhaftes Erbgut in sich trage und dennoch Nachwuchs zeuge, belaste unnötig die All­gemeinheit und sei eine Bedrohung für die sozialistische Zukunftsgesellschaft und den Weg dorthin. In Olbergs Augen war »für die Arbeiterklasse der Kampf gegen die Entartung ein Teil ihres Kampfes um die Macht«.

Von gezielten Paarungen im Sinne einer »Menschenzucht« wollten die allermeisten Sozialistinnen und Sozialisten nichts wissen. Dringlich jedoch schienen ihnen Fortpflanzungsbeschränkungen nach eugenischen Kriterien, wobei über die konkreten Maßnahmen Uneinigkeit bestand. Manche hofften, Aufklärung sowie informierte Freiwilligkeit werde ausreichen, und warben für den Einsatz von Verhütungsmitteln; andere zogen eugenisch indizierte Abtreibungen in Erwägung, strebten Eheverbote für bestimmte Personengruppen an oder forderten sogar Sterilisierungen und Internierungen, wie zum Beispiel der SPD-Politiker Edmund Fischer.

Besonders gering war die Hemmung, auch Zwangsmaßnahmen anzuwenden, gegenüber Menschen, die als »schwachsinnig« oder »geisteskrank« kategorisiert wurden. Der britische »Mental Deficiency Act«, ein eugenisch motiviertes Gesetz, das 1913 mit Unterstützung der Labour-Abgeordneten verabschiedet wurde, weitete die staatliche Verfügungsgewalt über derart kategorisierte Menschen drastisch aus.

Viele sozialistische Theoretiker überführten die ursprünglich politisch, sozial und moralisch fundierte Entgegensetzung einer leistungsfähigen und leistungswilligen Arbeiterklasse auf der einen Seite und eines faulen, nutzlosen und gefährlichen Lumpenproletariats auf der anderen in eine biologische Unterscheidung. Damit wollten sie die Arbeiterklasse als wertvolle und gesunde Bevölkerungsgruppe gegen staatliche Repressionsmaßnahmen eugenischer Prägung verteidigen. Vermutlich waren nicht alle an dieser Debatte beteiligten Sozialistinnen und Sozialisten überzeugte Eugeniker; schließlich reagierten sie auch auf einen in weiten Teilen der Gesellschaft vorherrschenden eugenischen Konsens. Manche konzentrierten sich auf die Abwehr armenfeindlicher Vorstöße bürgerlicher Eugeniker und bemühten sich, deren Argumente zu entkräften, indem sie etwa das Prinzip des survival of the ­fittest neu im Sinne sozialer Kohäsion statt »jeder gegen jeden« interpretierten.

Auch bei vielen Feministinnen ist unklar, ob sie pro-eugenische Argumente aus Überzeugung oder aus taktischen Gründen verwendeten. Oft versuchten sie mit Verweis auf die Rolle der future mothers of the race, wie es im angelsächsischen Diskurs hieß, eine bessere soziale und ökonomische Stellung der Frau zu erreichen, Gesetze zum Schutz von Müttern und Kindern voranzubringen und ein vereinfachtes Scheidungsrecht durchzusetzen.

Explizite Kritik an Eugenik innerhalb der sozialistischen Bewegungen war ­jedenfalls sehr selten und richtete sich nahezu ausschließlich gegen die Möglichkeit einer eugenischen Praxis als Form des Klassenkampfes von oben. Die sozialistischen Eugenikentwürfe hingegen, die eine von ökonomischen und sozialen Ungleichheiten befreite Gesellschaftsordnung voraussetzten, berührte diese Kritik nicht. Nur wenige Sozialistinnen und Sozialisten, unter ihnen der Schweizer Biologe und Schriftsteller Adolf Koelsch, stellten das ­Konzept Eugenik grundsätzlich in Frage und setzten das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen an die erste Stelle.