Die Angst vor einem russischen Angriff auf die Ukraine wächst

Einheit nur unter Zwang

Die Angst vor einem russischen Angriff auf die Ukraine wächst.

Als die Washington Post Ende Oktober wegen russischer Truppenverstärkungen an der Grenze zur Ukraine Alarm schlug, bezog sie sich auf namentlich nicht genannte Regierungsvertreter aus den USA und Europa. Wenige Tage ­später veröffentlichte die US-amerikanische Tageszeitung Politico zur Bekräftigung dieser Warnung Satellitenaufnahmen. Sie zeigen jedoch russische Militäreinheiten nahe der Ortschaft Jelnja in der Oblast Smolensk, die an Belarus grenzt. Die Wegstrecke bis zur ukrainischen Grenze beträgt von dort aus über 300 Kilometer.

Aus einer Pressemitteilung des ukrainischen Verteidigungsministeriums geht hervor, dass sich Anfang November nach dessen Schätzungen etwa 90 000 Angehörige der russischen Boden- und Luftstreitkräfte unweit der Grenze und auf dem Territorium der abtrünnigen Regionen im Donbass aufhielten. Dabei verwies das Ministerium auf ein vorangegangenes Militärmanöver russischer Streitkräfte auf dem Gebiet von Belarus. Die russische ­Regierung reagierte kurz und knapp: Russlands Militärpräsenz werde dort beibehalten, wo es die politische Führung für nötig halte. Generell lassen sich in den Grenzgegenden häufig russische Truppenbewegungen verzeichnen, was von der ukrainischen Regierung als Versuch gewertet wird, die Spannungen in der Region dauerhaft aufrechtzuerhalten.

Die ukrainischen Streitkräfte sind heutezutage eine hochgerüstete Armee. Käme es militärischen Auseinandersetzungen, müsste die russische Seite mit weitaus höheren Verlusten rechnen.

Ende November stellte die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zwar keine übermäßige Konzentration des russischen Militärs im Grenzgebiet zur Ukraine fest, äußerte sich aber dennoch besorgt. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach hingegen von einem Anwachsen der russischen Truppenstärke. Brigadegeneral Kyrylo Budanow, der Leiter des ukrainischen Militärnachrichtendienstes, äußerte in einem Interview in der US-amerikanischen Zeitschrift Military Times die Überzeugung, dass Russland für Ende Januar oder Anfang Februar eine Invasion plane, deren Ausmaß vorangegangene Militäreinsätze weitaus übertreffen werde. Die Nachrichtenagentur Bloomberg teilte indes mit, dass die USA in den vergangenen Wochen an einige europäische Nato-Verbündete detaillierte Informationen weitergeleitet hätten, um sie auf ein mögliches militärisches Vorgehen Russlands gegen die Ukraine hinzuweisen. Die ­Vermutung lautet, russische Einheiten planten einen großangelegten Einsatz aus drei Richtungen, von der Krim, von Osten und über Belarus mit insgesamt schätzungsweise 100 000 Soldaten.

Scharf geschossen wird an der Demarkationslinie zwischen dem von der Zentralregierung in Kiew kontrollierten Teil der Ukraine und den sogenannten Volksrepubliken ohnehin. Die ukrainischen Streitkräfte sind heute, anders als 2014, eine hochgerüstete Armee. Käme es zu größeren militärischen Auseinandersetzungen, müsste die russische Seite mit weitaus höheren Verlusten rechnen als während der damaligen Kämpfe, in die zahlreiche Freiwilligenverbände involviert waren. Unlängst setzte die ukrainische Regierung erstmals eine türkische Kampfdrohne vom Typ Bayraktar ein. Im ­Arsenal der ukrainischen Streitkräfte befinden sich inzwischen sogar Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Javelin, die die USA vor einigen Jahren offenbar zum Vorzugspreis an die Ukraine verkauft hatten.

Die russische Regierung wertet die Aufrüstung der Ukraine mit modernen Waffen als unzweideutige Bedrohung. Außenminister Sergej Lawrow warf der ukrainischen Regierung vor, den Konflikt mit Russland anzuheizen. Sein ukrainischer Amtskollege Dmytro Kuleba bestritt Vorwürfe, wonach sein Land eine Militäroperation im Donbass plane. Vielmehr werde nach Wegen gesucht, den Konflikt mit diplomatischen Mitteln zu lösen.

Doch während Russland auf die Einhaltung des Minsker Abkommens in seiner ursprünglichen Form pocht, im Wissen, dass Teile der Vereinbarungen für die Ukraine inakzeptabel sind – etwa die Bestimmung, die zur Beilegung des Konflikts im Donbass Verhandlungen mit den Machthabern der abtrünnigen Regionen vorsieht –, versucht die ukrainische Regierung Optionen aus, das Abkommen zu modifizieren. So forderte sie im Mai dieses Jahres die Änderung einiger wesentlicher Punkte, wie beispielsweise die vollständige Kontrolle der Grenzen der abtrünnigen Gebieten  zu Russland – vor der Abhaltung von Regionalwahlen. Da das Minsker Abkommen die Rahmenbedingung für ein allseits akzeptiertes Lösungsmodell im Donbass darstellt, gibt die ukrainische Regierung zwar vor, sich prinzipiell damit abzufinden. Doch gleich­zeitig macht sie deutlich, dass sie die Bestimmungen nicht ausführen kann oder will.

Es stellt sich nicht allein die Frage, ob Russland einen Angriff auf das Nachbarland ernsthaft in Erwägung zieht oder nicht – dazu fähig ist die Armee trotz hoher Risiken allemal, vorausgesetzt die Regierung gibt den Befehl. Präsident Wladimir Putin stellte in seinem im Juli publizierten Text »Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer« wiederholt unter Beweis, dass er nicht gewillt ist, zu akzeptieren, dass sich die beiden Länder politisch und kulturell immer weiter auseinanderentwickeln. Aber es geht um mehr: Bei einer Rede Mitte November im russischen Außenministerium forderte Putin, es müssten langfristige Garan­tien für Russlands Sicherheit eingefordert werden. Wer die garantieren soll, sagte er zwar nicht, aber mit Blick auf ein noch vor Jahresende angestrebtes Treffen mit US-Prä­sident Joe Biden ist denkbar, dass Putin die Gelegenheit nutzen will, durch ­Demonstration von Stärke Zugeständnisse der USA im Donbass-Konflikt zu erreichen. Russland will als Supermacht gesehen und so behandelt werden – und ist bereit, dafür auch etwas zu riskieren.

Der russische Militärexperte Pawel Felgengauer geht davon aus, dass die Wahrscheinlichkeit für eine Eskalation des Konflikts mit dem Schwinden politischer Fortschritte bei der Lösungsfindung steige. Wann der Zeitpunkt eines militärischen Konflikts und vor allem, welcher Anlass für einen Einsatzbefehl ausreichen könnte, lässt sich nicht prognostizieren.