Syrizas großer Zoff
Am Ende ging es sehr schnell. Nicht einmal ein komplettes Jahr amtierte Stefanos Kasselakis als Vorsitzender der Sozialistischen Koalition der Radikalen Linken (Syriza), Griechenlands größter Oppositionspartei. Und doch hat er in dieser kurzen Zeit vom 24. September 2023 bis zum 8. September Historisches erreicht: Kasselakis ist der erste Parteivorsitzende einer großen griechischen Partei, der durch ein Misstrauensvotum des höchsten Parteigremiums seinen Posten verloren hat.
Am 7. September beschloss das 295köpfige Zentralkomitee Syrizas mit großer Mehrheit, in geheimer Abstimmung über das von 100 ZK-Mitgliedern eingereichte Misstrauensvotum gegen Kasselakis zu entschieden. Seine Unterstützer verlangten eine offene Abstimmung.
Kasselakis zelebrierte seinen Reichtum, auch mit einer viertägigen Hochzeitsfeier auf Kreta. Öffentlich bat er um vierstellige Spenden für seine Flitterwochen mit Ehemann Tyler Macbeth.
Dabei schien Kasselakis viele seiner Kritiker aus der Partei gedrängt zu haben; zudem verlangte er vom Schiedsgericht der Syriza den Parteiausschluss weiterer Kritiker. Er dulde keine Fraktionen und Strömungen, hatte er die Öffentlichkeit vor nicht allzu langer Zeit wissen lassen, Kritik an Präsidiumsbeschlüssen sei ein Grund zum Parteiausschluss. Selbst von seinem Amtsvorgänger, dem Gründer Syrizas und ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, hatte Kasselakis ein öffentliches Treuebekenntnis verlangt. Und doch entzog ihm die Parteiführung nun mit 163 zu 120 Stimmen das Vertrauen.
Kasselakis’ Unterstützer und Gegner im Zentralkomitee und darüber hinaus hatten einander zuvor in ihrem öffentlich geführten Streit als korrupt, intrigant, homophob, narzisstisch, ableistisch, misogyn, offen rechts oder als Nazi-Kollaborateure bezeichnet. »Ich bin erlöst, weil alle Bürger das Misstrauen gesehen haben, mit dem ich seit dem ersten Tag meiner Wahl zum Vorsitzenden gelebt habe«, teilte Kasselakis nach seiner Abwahl mit.
»Mit Kapuzen vermummt«
»Es ist beispiellos, wie die Parteibürokratie, die Nomenklatur und verschiedene Fraktionen die ehrenwerten Mitglieder des Zentralkomitees bloßstellen, sie mit Kapuzen vermummen und das Votum der Parteimitglieder missachten.« Der Ausdruck »mit Kapuzen vermummt« bezieht sich auf die Nationalsozialisten, die während ihrer Besatzung Griechenlands auf diese Weise lokale Kollaborateure tarnten, welche Kommunisten und Sympathisanten des Widerstands denunzierten und so für den Tod vieler Menschen sorgten.
Der ehemalige Reeder und Bankier Kasselakis war ein politischer Neuling, als er den Parteivorsitz übernahm. Einige Linke, die von seiner fehlenden linken Orientierung und seinem vermeintlichen Rechtspopulismus abgeschreckt waren, hatten sich aus Protest abgespalten und eine Splitterpartei namens Neue Linke gebildet.
Kasselakis hatte geplant, Syriza dahingehend umzubauen, dass Parlamentarier der Partei keinem Parteiorgan mehr angehören können und dass die Dauer der Parlamentszugehörigkeit, sprich die Zahl der maximal möglichen Legislaturperioden, begrenzt wird. Er strebte eine Partei an, die »nur der Basis Rechenschaft ablegen« solle.
Unkenntnis griechischer Politik
Er stellte er ohne Absprache die Finanzierung parteinaher oder -eigener Medien ein, so bei der Tageszeitung I Avgi oder beim Radiosender Kokkino. Schließungen ohne Sozialplan wurden angekündigt und altgediente, hochproduktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kurz vor der Rente in die Arbeitslosigkeit gedrängt, Löhne und Gehälter nicht ausgezahlt.
Kasselakis zelebrierte derweil seinen Reichtum, auch mit einer viertägigen Hochzeitsfeier auf Kreta. In einer öffentlichen Geschenkeliste bat er um vierstellige Spenden für seine Flitterwochen mit Ehemann Tyler Macbeth. Standesamtlich geheiratet hatten die beiden bereits im vergangenen Oktober in den USA. Damals konnte der frischgebackene Oppositionsführer das Ereignis aber wohl nicht gebührend feiern.
Kasselakis bewies mehrfach, dass er eher an die Macht des Reichtums als an linke Ideen glaubt, mit Luxusurlauben, dem Bau eines nicht genehmigten Swimmingpools in einer unter Denkmalschutz stehenden Siedlung auf der Insel Spetses, einer millionenteuren Eigentumswohnung in Athen und einer nicht den Gesetzen entsprechende Vermögenserklärung. Er demonstrierte zudem Unkenntnis griechischer Politik und verwechselte ständig historische Vorbilder der griechischen Linken.
Lauter Populisten
Trotzdem wurde Kasselakis von seinen Anhängern verteidigt. In den Anfangszeiten von Syriza, die sich 2004 zunächst als Wahlbündnis linker Parteien gegründet hatte und im Mai 2012 als Partei registriert worden war, waren tatsächlich im klassischen Sinn Linke in der Mehrheit.
Später kamen Linkspopulisten hinzu, wie Kasselakis’ anfänglicher Mentor und jetziger stärkster Widersacher, Pavlos Polakis. Dieser, ein ehemalige Chirurg, ließ sich in seiner Zeit als stellvertretender Gesundheitsminister von September 2015 bis Juli 2019 auch bei Pressekonferenzen nicht überreden, aufs Rauchen in geschlossenen Räumen zu verzichten.
Polakis ist in den griechischen Medien häufig durch diffamierende Anspielungen auf seine politischen Gegner aufgefallen. Er gefällt sich in der Rolle eines chauvinistischen Manns und beschimpfte beispielsweise im Parlament die Rechtsberaterin des Gesundheitsministeriums, Natasa Petroulia, die an Gesichtslähmung leidet, wegen ihres »gehässigen Gesichtsausdrucks«.
Spätestens ab 2015 rekrutierte Tsipras auch Populisten der Rechten für seine Partei. Kasselakis hat Aris Spiliotopoulos und Evangelos Antonaros zu Beratern und Parlamentskandidaten gemacht; Spiliotopoulos war unter anderem Tourismusminister unter dem von 2004 bis 2009 amtierenden Ministerpräsidenten Kostas Karamanlis von der liberal-konservativen Partei Nea Dimokratia, Antonaros war dessen Regierungssprecher. In Karamanlis’ Amtszeit fielen die Unruhen im Dezember 2008 infolge des Mords an dem 15jährigen Schüler Alexis Grigoropoulos im Athener Viertel Exarchia, die Syriza – damals noch unter drei Prozent der Wählerstimmen – unter Tsipras zur Profilierung nutzte.
Das Zentralkomitee hat nach Kasselakis’ Absetzung eine Neuwahl des Parteivorsitzenden vorgeschlagen, bei der die Parteibasis entscheiden soll. Es heißt, Kasselakis erwäge, erneut anzutreten.
Syriza ist nicht mehr die Partei, die sich um die Jugend und die benachteiligte Bevölkerung bemüht. Bei den internen Streitereien geht noch nicht einmal jemand dazwischen, wenn Katerina Notopoulou, eine Syriza-Parlamentsabgeordnete und Kritikerin von Kasselakis, von dessen Parteigängern wegen ihrer schleppenden Aussprache beleidigt wird, obwohl bekannt ist, dass sie schwerhörig ist und daher Probleme mit dem Sprechen hat.
Das Zentralkomitee hat nach Kasselakis’ Absetzung eine Neuwahl des Parteivorsitzenden vorgeschlagen, bei der die Parteibasis entscheiden soll. Es heißt, Kasselakis erwäge, erneut anzutreten. Jüngste Umfragen zeigen Syriza, bei den Europawahlen im Juni noch zweitstärkste Partei in Griechenland, derzeit auf dem fünften Platz in der Wählergunst.