Das Dilemma der Demokraten
Die Strategie der Demokratischen Partei in der US-Präsidentschaftswahl war bislang nicht sehr offensiv. Die Partei und ihr Präsidentschaftskandidat Joe Biden hielten sich zurück und warteten offenbar darauf, dass US-Präsident Donald Trump sich immer weiter selbst demontiert. Die hohen Fall- und Todeszahlen bei Covid-19, eine mit der Pandemie einhergehende gravierende Wirtschaftskrise und die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt gaben Trump zunächst ausreichend Gelegenheit, an sich selbst zu scheitern.
Es sind die anhaltenden Unruhen, die dies nun ändern könnten. Deren Eskalation in Kenosha und Portland, wo bisher drei Menschen ums Leben kamen, nutzt Trump, um ein Bild US-amerikanischer Städte zu zeichnen, die dem Chaos anheimfallen und von »Anarchisten« und der »Antifa« terrorisiert werden. Damit greift er die Angst in den zumeist von weißen US-Amerikanerinnen und -Amerikanern bewohnten Vororten auf, eine Strategie, die schon Richard Nixon zum Wahlsieg verhalf. In den fünfziger und sechziger Jahren zogen wegen des vermehrten Zuzugs nichtweißer Bevölkerungsgruppen in die Städte weiße Kleinfamilien in die Vororte. Nach diesem sogenannten white flight galten die Städte lange Zeit als gefährlich. Ein gegenläufiger Trend, der vielfach mit rabiater Polizeiarbeit in den Innenstädten einherging, setzte erst in den neunziger Jahren ein.
Die derzeitigen gewaltsamen Auseinandersetzungen eignen sich, alte Ängste neu zu schüren. Trump beschwört zudem eine angebliche Bedrohung der USA durch radikale Linke, deren Marionette der »schwache« Biden sei. So twitterte er am 31. August: »Wann wird Slow Joe Biden die Anarchisten, Verbrecher und Agitatoren in der Antifa kritisieren? Wann wird er vorschlagen, die Nationalgarde in die schlecht regierten und von Verbrechen verseuchten demokratischen Städte und Bundesstaaten zu schicken? Denkt daran, er darf die verrückten superliberalen Bernie-Wähler nicht verlieren!«
Bisher konnte sich Biden auf die Seite der Black-Lives-Matter-Proteste stellen, ohne an Popularität zu verlieren, da sie laut einer Umfrage der Washington Post von zwei Dritteln der US-amerikanischen Bevölkerung unterstützt wurden. Doch seit es vermehrt zu gewaltsamen Unruhen kam, schwindet diese Unterstützung. Biden solle sich deutlicher von den Ausschreitungen distanzieren, raten ihm nun viele Kommentatorinnen und Kommentatoren. Nur so könne er Unentschiedene bei der Wahl in den entscheidenden swing states für sich gewinnen. Eine zu starke Distanzierung könnte aber auch dazu führen, dass sich einige der urbanen Wählerinnen und Wähler von ihm abwenden. Seit den Ereignissen in Kenosha hat Biden bei Umfragen leicht an Zustimmung verloren. Zwar liegt er in Prognosen immer noch vor Trump, doch Umfragewerte sind, wie die Wahl von 2016 zeigte, kein zuverlässiger Indikator.
Die Angst vor Gewalt und Kriminalität hat in den USA schon öfter Wahlen entschieden. Doch nach einer Umfrage des Pew Research Centers von Mitte August sind den Wählerinnen und Wähler derzeit die Wirtschaftskrise, die Gesundheitsversorgung, die Berufungen für das Oberste Gericht und die Bewältigung der Covid-19-Pandemie wichtiger. In diesen Fragen genießt Biden einen deutlichen Vorteil gegenüber dem Amtsinhaber. Obwohl die Unruhen Trump derzeit eher nutzen, sollte ihre Bedeutung für die Wahlen daher nicht überbewertet werden.