Der türkische Präsident hält an seinen Expansionsplänen für Libyen und Syrien fest

Zu Gast beim Größenwahnsinnigen

Beim Besuch von Bundeskanzlerin Merkel in Istanbul wich Präsident Erdoğan nicht von seinen Expansionsplänen für Libyen und Syrien ab. Er setzt die EU bei der Flüchtlingspolitik unter Druck.

Die Eröffnung eines neuen Campus der Türkisch-Deutschen Universität am Bosporus war wohl kaum der alleinige Grund für Angela Merkels Reise in die Türkei. Die Universität ist seit über sechs Jahren in Betrieb und die Neueröffnung nahm man dort so wenig wichtig, dass sie auf der eigenen Website keine Erwähnung fand. Da hieß es nur, dass es im Januar keine Veranstaltungen gebe. Die Bundeskanzlerin wollte offenbar den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der vor kurzem erst in Berlin war, noch einmal unter vier Augen sprechen. Erdoğan liebt Staatsbesuche, denn sie helfen ihm dabei, sich als einen der Großen in der internationalen Politik zu präsentieren. Das im Familienbesitz seines Schwiegersohns befindliche Massenblatt Sabah nahm den Besuch Merkels zum Anlass, diejenigen zu schelten, die meinten, die Türkei habe sich mit ihrer Libyen-Politik isoliert.

Erdoğan ist trotz seiner außenpolitischen Isolation nicht bereit, von seiner Libyen-Politik Abstand zu nehmen.

Das vorherige Treffen in Berlin dürfte Erdoğan nicht in guter Erinnerung ­haben. Zuvor hatte er in einem Artikel in der Zeitschrift Politico den Europäern empfohlen, sein Eingreifen in dem nordafrikanischen Land zu unterstützen, wenn sie selbst ungern militärisch intervenieren wollten. Doch auch ihm dürfte bekannt sein, dass Frankreich den libyschen General Khalifa Haftar ­unterstützt, den die Türkei ausschalten will. Erdoğans Versuch, durch einen Vertrag mit der mit Haftar konkurrierenden »Regierung der nationalen Übereinkunft« von Ministerpräsident Fajez al-Sarraj in Tripolis die exklusive Wirtschaftszone der Türkei im Mittelmeer auf Kosten Griechenlands aus­zudehnen, kann die EU auch nicht einfach ignorieren (Jungle World 4/2020).

Statt eines Bekenntnisses, die türkische Regierung zu unterstützen, stand im Abschlussdokument der Berliner Libyen-Konferenz, jede militärische Einmischung solle unterbleiben. Erdo­ğan zwang sich gerade noch auf das Gruppenbild der Konferenz und reiste dann vorzeitig ab. Die russische Tageszeitung Moskowskij Komsomolez schrieb, Erdoğan sei förmlich »ausgeflippt«. Die Formulierung mag neben ihrem möglichen Wahrheitsgehalt aber auch dazu gedient haben, den Kontrast zum russischen Präsidenten Wladimir ­Putin zu betonen, von dem die Zeitung schrieb, dass er in Berlin »ruhig durchatmen« konnte.

Seine Unzufriedenheit war Erdoğan auch noch bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel in Istanbul anzumerken. Der »Putschist« Haftar sei »verwöhnt und getätschelt« worden, klagte er. Auch das Gespräch mit Merkel dürfte nicht ganz harmonisch verlaufen sein. Als Erdoğan über Haftar herzog, sagte sie: »Ich glaube, da missverstehen wir uns.« Dabei musste sie Erdo­ğan recht geben, dass Haftar wirklich nichts unterschrieben habe. Erdoğan ist trotz seiner außenpolitischen Isola­tion nicht bereit, von seiner Libyen-Politik Abstand zu nehmen.
Mit Merkel und Erdoğan treffen zwei Politikstile aufeinander. Die deutsche Außenpolitik sucht den Konsens im größeren Rahmen, Alleingänge sind die Ausnahme, nationale Ziele werden zumindest nicht laut formuliert. Man spricht von Frieden und Menschenrechten und liefert die Waffen möglichst unauffällig.

Erdoğan ist dagegen ein Politiker vom Typ Donald Trumps. »Nationale Inter­essen« verfolgt er vehement, sie sind ihm heilig. Er erweitert die Definition nationaler Interessen in geographischer Hinsicht, indem er die Türkei als legitime Nachfolgerin des Osmanischen Reiches darstellt. Die türkischen Interessen erstrecken sich demzufolge auf alle Gebiete, die einst die Osmanen kontrollierten. Erdoğans Problem ist, dass er zur Durchsetzung seiner Ziele nicht die gleichen Mittel hat wie Trump, vor allem fehlen ihm ökonomische Druckmittel.

Daher wird der Aufbau der heimischen Rüstungsindustrie vorangetrieben. Außerdem soll die türkische Flotte um 20 Schiffe verstärkt werden. Die Streitkräfte werden durch Söldner ergänzt, die langfristig eine Art islamis­tische Fremdenlegion bilden könnten. Kriege lassen sich damit innenpolitisch besser verkaufen, denn es kommen weniger Särge mit türkischen Gefallenen zurück.

Doch Erdoğan stößt in Libyen an seine Grenzen. Zu hoch gepokert hat er auch in Syrien, als er die Türkei im Astana-Abkommen praktisch zur Schutzmacht des Rebellengebiets in der Provinz Idlib gemacht hat. Er betrachtete Idlib wohl vor allem als Verhandlungsmasse und als Gegend, in der sich relativ billige ­Söldner für seine Feldzüge gegen die Kurden rekru­tieren lassen. Putin hatte Erdoğan jedoch gleichzeitig dazu verpflichtet, den Einfluss des islamistischen Milizenbündnisses Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in Idlib zu beschränken. Wenn der russische Präsident darauf spekuliert hatte, dass die Türkei dazu nicht in der Lage wäre oder es nicht wollte, so ist dies aufgegangen. Die HTS konnte ihren Einfluss in Idlib sogar erheblich erweitern. Damit lieferte die Türkei Russland und dessen Verbündeten, dem syrischen Diktator Bashar al-Assad, einen willkommenen Vorwand, die Offensive gegen Idlib fortzusetzen.

Just zu dem Zeitpunkt, an dem die Türkei mit syrischen Söldnern in ­Libyen eingreift, sind die syrische Armee und die russische Luftwaffe dazu angetreten, weite Teile Syriens zu erobern. Mit der Kontrolle über die Autobahn M5 zwischen Hama und Aleppo haben sie bereits ein wichtiges Ziel erreicht. Ganz Idlib könnte demnächst fallen. Die türkischen Militärposten rund um Idlib werden einfach um­gangen. Erdoğan steht als Papiertiger da. Außerdem droht der Türkei ein Flüchtlingsproblem. Doch mit bis zu zwei Millionen zusätzlichen syrischen Flüchtlingen könnte die türkische Regierung auch die Europäer unter Druck setzen.

Erdoğan will das Flüchtlingsproblem in Syrien lösen: Zunächst wolle die ­Türkei für die Flüchtlinge in Idlib Häuser bauen, um sie »aus den Zelten ­herauszuholen«. Merkel sagte dafür Unterstützung zu. Darüber hinaus will Erdoğan aber auch Flüchtlinge in den von der Türkei in drei Feldzügen eroberten Gebieten ansiedeln. Da ist zum Teil viel Platz, weil die früheren Bewohnerinnen und Bewohner vor der türkischen Armee und ihren Verbündeten geflohen sind. Von Europa will die Türkei Geld für die Ansiedlung. Dabei dürfte es Erdoğan nicht nur um das Geld gehen, sondern auch darum, auf diese Weise politische Unterstützung für das Ansiedlungsprojekt zu bekommen. Diese hat die türkische Regierung dringend nötig, denn sobald Assad mit ­Idlib fertig ist, dürfte er auch die anderen Gebiete zurückfordern. Erdoğans Politik zielt aber darauf, die Grenz­region dauerhaft zu kontrollieren. Die Situation wird für ihn dadurch verkompliziert, dass auch die USA ihre Truppen nicht in Gänze abgezogen ­haben.
Außerdem möchte Erdoğan die Unterstützung der deutschen Regierung bei der Erweiterung der Europäischen Zollunion. Das dürfte schon daran scheitern, dass die Türkei im Streit um die Ausbeutung von Bodenschätzen im Mittelmeer gerade Griechenland provoziert. Das heißt aber auch, die deutsche Regierung steht beim Versuch, die Türkei einzuhegen, mit ziemlich leeren Händen da. Selbst für finanzielle Hilfen hat sie nicht die Unterstützung anderer EU-Staaten. Andererseits kann Erdoğan die EU wegen ihrer Flüchtlingsphobie wunderbar unter Druck setzen.