Hunderttausende in Nordostsyrien auf der Flucht

Die Vertreibung hat begonnen

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Aus den umkämpften Grenzregionen sind in den vergangenen Tagen über 200 000 Zivilistinnen und Zivilisten geflohen. Die meisten suchen vorerst Schutz in den weiter südlich gelegenen, von den SDF kontrollierten Gebieten. Einige Tausend sind allerdings auch schon in der Autonomieregion Kurdistan im Irak eingetroffen, wo man sich auf noch mehr Flüchtlinge vorbereitet.

Auch eine Rückkehr des sogenannten Islamischen Staats gilt dort als ernstzunehmende Gefahr. Immerhin konnten vor einer Woche 800 Frauen und Kinder von IS-Angehörigen durch eine gemeinsame Aktion lokaler IS-Schläferzellen mit der türkischen Luftwaffe aus dem Lager Ain Issa befreit werden. Viel gefährlicher sind die männlichen Kämpfer, die bereits durch gezielte Angriffe auf Gefängnisse in kurdischen Städten freikommen konnten. Im großen Gefangenenlager al-Hol (siehe Interview oben) finden fast täglich Aufstands- und Ausbruchsversuche statt, derer die SDF nur noch mit Mühe Herr werden. Am Dienstag vermeldete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte die Rückkehr eines lokalen Emirs des IS mit 150 Bewaffneten nach Tell Abyad.

Mit dem Fall der Städte Tell Abyad und Serê Kaniyê wurden nicht nur kurdische – und im Falle Tell Abyads auch arabische – Zivilisten vertrieben, sondern auch aramäisch- und armenischsprachige Christen. Beide Städte beherbergen christliche Gemeinden. In Tell Abyad waren die dortigen armenischen Christen bereits 2013 vor dem IS geflohen, der ihre Kirche niederbrannte. 2015 wurde diese nach der Befreiung der Stadt durch die Kurden wiederaufgebaut. Nun mussten die Nachkommen der Überlebenden des Genozids von 1915 vor der türkischen Armee fliehen. Das gleiche Schicksal erlitten die letzten armenischen und syrisch-orthodoxen Christen dieser Stadt am Sonntag. In der Umgebung von Serê Kaniyê befinden sich zudem die nach der türkischen Besetzung Afrins 2018 noch verbliebenen letzten yezidischen Dörfer Syriens. Auch deren Bewohner sind mittlerweile fast alle geflohen. Zu groß ist die Angst der religiösen Minderheiten vor den islamistischen Verbündeten der Türkei.

Diese haben in Tell Abyad bereits damit begonnen, die Häuser der geflohenen Christen zu kennzeichnen und zu beschlagnahmen. In Afrin hatten sie vorgemacht, was zurzeit auch in Tell Abyad und Serê Kaniyê droht: Allein 17 yezi­dische Tempel wurden dort seit 2018 zerstört und geschändet; Friedhöfe der Aleviten und Yeziden und christliche Kirchen wurden zerstört; verbliebene Angehörige der religiösen Minderheiten fürchten um ihr Leben, viele wurden entführt. All dies droht auch den verbliebenen Minderheiten im Nordosten Syriens.