Georgischer Aufstand auf Texel

Die Rebellion der Georgier

Die letzte Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Europa fand im April und Mai 1945 auf der niederländischen Insel Texel statt. Auf beiden Seiten trugen die Soldaten deutsche Uniformen.
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Der Aufstand auf Texel war eine Rebellion von Soldaten der Georgischen ­Legion, die zuvor für die Rote Armee gekämpft hatten und gefangen genommen worden oder zu den Deutschen übergelaufen waren. Vor die Wahl gestellt, in einem Kriegsgefangenenlager zu verhungern oder deutsche Uniformen anzuziehen, zogen viele Letzteres vor. Einer beschrieb den Moment, in dem ein deutscher Offizier in einem Lager befahl, alle Feinde des Reichs sollten vortreten. Kein Georgier rührte sich, da alle erwarteten, erschossen zu werden, wenn sie es taten. Der Offizier sagte dann, die Zeremonie ihres Eintritts in die Georgische Legion sei abgeschlossen.

Die Männer wurden zunächst in der Kaukasusregion eingesetzt und beteiligten sich an der Bekämpfung von Partisanen, als die deutsche Armee auf die Ölfelder Bakus vorrückte. Aber nach der Niederlage in Stalingrad wurden die Georgier an anderen Orten stationiert. Bei jeder Gelegenheit gab es Desertationen, viele liefen wieder zur sowjetischen Seite über, so dass ihre deutschen Kommandeure es für sicherer hielten, die Georgier weiter nach Westen zu transportieren; viele landeten in Frankreich, den Niederlanden oder sogar auf den Kanalinseln. Anfang 1945 wurde das 822. Bataillon auf die friedliche Insel Texel verlegt.

Schalwa Loladse

In ungeliebter Uniform. Schalwa Loladse führte den Aufstand der Georgier an.

Bild:
J.A. van der Vlis / Anefo (CC0 1.0)

Die Soldaten wussten, dass das Ende des Kriegs ihre zwangsweise Repatriierung in der Sowjetunion bedeutete, wo sie wahrscheinlich wie Verräter behandelt werden würden. Mehrere Monate lang trafen sie sich heimlich mit niederländischen Kommunisten, um die Möglichkeit eines bewaffneten Aufstands zu diskutieren. Es kam sogar die Idee eines Marschs auf Amsterdam auf. Zum Aufstand kam es schließlich Anfang April, als die deutsche Armee verlangte, dass die Hälfte des Bataillons in Arnheim stationiert werden solle, um im Kampf gegen die vorrückenden britischen und kanadischen Truppen zu helfen. Als sie davon hörten, entschieden der georgische Kommandant, Schalwa Loladse, und seine Kameraden, dass es an der Zeit sei, ihre Kollaboration mit den Deutschen zu beenden.

 

Nachts um eins am 6. April 1945 begannen sie die »Operation Tag der Geburt« und töteten auf Texel so viele deutsche Soldaten wie möglich. Viele wurden im Schlaf mit Bajonetten oder Rasierklingen getötet. Etwa 400 deutsche Soldaten starben in dieser Nacht auf Texel und fast die Hälfte der Insel fiel in die Hände der Georgier. Aber nicht die ganze Insel.

Da die Artilleriebatterien auf Texel noch unter deutscher Kontrolle standen und der Bataillonskommandeur, Klaus Breitner, per Funk um Hilfe rufen konnte, begann schnell eine Gegenoffensive. Der Befehl aus Hitlers Bunker in Berlin war klar, die Georgier sollten vernichtet werden. Hunderte deutsche Soldaten, auch SS-Männer, wurden auf die Insel transportiert.

So begann ein sechswöchiger Abnutzungskrieg, in dem Hunderte Georgier und viele deutsche Soldaten ihr Leben verloren. Keine der beiden Seiten machte Gefangene. Georgiern, die sich ergaben, befahl man, ihre deutschen Uniformen auszuziehen – dann wurden sie erschossen. Dutzende niederländische Zivilisten, unter ihnen Kinder, die auf Texel Schutz gesucht hatten, wurden bei den ununterbrochenen deutschen Angriffen getötet. Die Kämpfe dauerten an, bis die Deutschen am 5. Mai in den Niederlanden kapitulierten – und sogar noch danach. Erst als kanadische Streitkräfte am 20. Mai auf der Insel landeten, hörten sie auf. Im Berichtsbuch der Einheit berichtete deren Kommandant über die chaotischen Umstände, die er vorfand.

Zivilisten unter Beschuss. Vor allem das deutsche Artilleriebombardement richtete auf Texel schwere Zerstörungen an.

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Georgian volunteer troops (gemeinfrei)

Es wird weithin angenommen, dass die etwa 200 georgischen Überlebenden nach ihrer Rückkehr Stalins Zorn ausgesetzt waren. Dieser traf etwa General Andrej Wlassow und seine Kameraden der von den Nazis unterstützten »Russischen Befreiungsarmee«, trotz ihrer Entscheidung, sich in letzter Minute dem tschechischen Widerstand anzuschließen und in Prag gegen die SS zu kämpfen. Wlassow und mehrere seiner Offiziere wurden hingerichtet, die Soldaten sechs Jahre in die Verbannung geschickt. Aber den Georgiern blieb Wlassows Schicksal erspart, sie hatten nach ihrer Rückkehr wenig auszustehen. Selbst den Kommandanten der Georgischen Legion, Schalwa Maglakelidse, der 1954 von sowjetischen Agenten in Deutschland entführt wurde, ließ man in Georgien frei; er blieb unbehelligt.

Die Sowjetunion begann unterdessen, den Aufstand auf Texel in einen Mythos zu verklären; man hielt jährlich Gedenkveranstaltungen auf der Insel ab. Die Sowjetunion bestand darauf, dass die Soldaten der Georgischen ­Legion de facto Kriegsgefangene waren. 1968 veröffentlichte sie den Film »Gekreuzigte Insel«, der die Rebellion glorifizierte. Selbst nachdem Georgien 1991 die Unabhängigkeit erlangt hatte, setzte die neue Führung die Politik fort, die Aufständischen von Texel als Nationalhelden zu feiern.

 

Viele Jahre lang war die Frage, wer für die verlustreichen Kämpfe auf Texel verantwortlich war, bei Historikern umstritten. Einige argumentierten, dass die niederländische Kommunistische Partei einen Teil der Verantwortung trage, da sie die Georgier zur Rebellion ermutigt habe, wohl wissend, dass sie wahrscheinlich abgeschlachtet werden würden. Die niederländischen Kommunisten hatten ihre eigenen Motive, dies zu tun, nicht zuletzt, um in gewisser Weise ihre Unterstützung für den Hitler-Stalin-Pakt zu kompensieren. Und es war ein einfaches Mittel, die sowjetische Führung davon zu überzeugen, dass ihre Investition in die kleine kommunistische ­Bewegung der Niederlande sich gelohnt hatte.

Einige Einwohner Texels und andere Niederländer beschuldigten die Georgier, aus Egoismus zugeschlagen zu haben. Sie hätten einfach das Ende des Kriegs abwarten können, dann hätte niemand sterben müssen. Sie hätten ihr eigenes Leben retten wollen und sich nicht darum gekümmert, dass viele unschuldige Niederländer sterben mussten.

Doch letztlich liegt die Verantwortung für die Tragödie auf Texel bei den Deutschen. Wie ein Anführer des niederländischen Widerstands auf der Insel sagte: »Sie hatten kein Recht, dort zu sein«, das sei entscheidend. Es war eine illegale Besatzung, die das Er­gebnis eines illegalen Aggressionskriegs war.

Obwohl die deutsche Armee die niederländische Zivilbevölkerung von Texel deutlich besser behandelte als beispielsweise die polnische, handelten die deutschen Besatzer 1945 völlig rücksichtslos. Anfang 1945 wurden viele Männer auf Texel zur Zwangsarbeit verpflichtet, sie mussten auf dem Festland Verteidigungsanlagen gegen die Alliierten bauen. Das war illegal, doch es geschah noch weit Schlimmeres. Der erbarmungslose Beschuss der Städte auf Texel, das Niederbrennen der Bauernhöfe und die Hinrichtung niederländischer Zivilisten waren Kriegsverbrechen.

Es gab einen Versuch, Erich Neumann, den Kommandanten der deutschen Truppen auf der Insel, und ­weitere Offiziere wegen Mordes zur Rechenschaft zu ziehen. Ein Gericht in Oldenburg entschied jedoch 1972, dass es sich um Totschlag, nicht um Mord gehandelt habe – diese Straftat aber sei seit 1965 verjährt. Sowohl Neumann als auch Breitner überlebten den Krieg um viele Jahre, sie starben friedlich in ihren Betten, ohne für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.

Einer der letzten Georgier von Texel, Jewgenij Artemidse, starb vor einigen Jahren. Ich besuchte sein kleines Haus im Dorf Manglisi, um einige der Räume zu sehen, in denen er ein kleines Museum der Rebellion auf Texel eingerichtet hatte. Unter den Artefakten ist eine blutbefleckte Karte der Insel, die der Anführer der Rebellen, Schalwa Loladse, in seiner Tasche hatte. An der Wand befand sich neben vielen Fotos und Zeitungsausschnitten ein Artikel, auf den Artemidse besonders stolz war. Die Überschrift war ein Zitat von ihm, das zusammenfasste, wie an ihn erinnert werden sollte: Er trug Hitlers Uniform, aber sein Herz war mit ­Stalin.